«Der letzte Auftritt»

  04.10.2022 Elgg

In ihren Gedanken steht sie bereits auf der Bühne. Ihr letzter Auftritt wird es sein. Fulminant soll er werden, sodass sich die Menschen danach auch noch nach Jahren an sie erinnern werden, an die legendäre Charakterdarstellerin, die sie immer sein wollte, zeitlebens, und es auch war. Und nur das. Nichts anderes wollte sie in ihrem Leben erreichen. Einfach Schauspielerin sein, fremde Haut zu ihrer eigenen werden lassen, das Scheinwerferlicht auf ihrem Gesicht spüren, die knisternde Stille im Zuschauerraum aufnehmen und in das Saaldunkel hinein ihre Worte sprechen, flüstern, schreien, singen, und dabei erfahren, wie sie lebendig werden und nachwirken bis in die hinterste Ecke des Raumes: Die Stecknadel, die man fallen hört, durch kein Hüsteln unterbrochen, weil jeder und jede den Atem anhält, die Blicke, die nicht von ihr ablassen, gebannt, gefesselt, sie durchbohren in ungeduldiger Erwartung darauf, was als nächstes geschehen wird … Ihr letzter Auftritt.
Alle Karten sind ausverkauft – bis auf den hintersten Stehplatz. Sie ist stolz auf sich, auf alles, was sie in den vergangenen 30 Jahren Bühnenarbeit erreicht hat. Wie oft hätte sie sich anders entscheiden, lukrativere Angebote annehmen können. Aber das wollte sie nicht. Nicht zum Film und nicht zum Fernsehen zog es sie hin. nichts Schlimmeres als diese Serienheldinnen und -helden, die sich auf eine Rolle einschiessen und nie mehr davon loskommen. Nein, sie war immer frei.
Von der Clownin bis zur Göttin, der Putzfrau bis zur Hexe, der Operndiva bis zur stummen Wasserträgerin – alles hat sie gespielt … Berühmte Frauengestalten aus der Geschichte und klassischen Literatur sowie namenlose Nebenfiguren, denen sie durch ihr Spielen einen unverwechselbaren Charakter verliehen hat. Sie war Anna Karenina und Madame Bovary. Sie war Effi Briest und Frau Carrar. Sie war Katharina Blum und Lili Marleen, Anna Göldin und noch so viele andere …
Und nun das letzte Stück: Welche Rolle wird sie spielen? Ihre eigene. Ihr Leben. Kein fremder Charakter, in den sie sich einzufühlen hat, nur in sich selbst wird sie hineinhören und ihrer eigenen Geschichte nachsinnen. Sie entdeckt dabei ein neugieriges, lernwilliges Kind, eine zielstrebige und zugleich feinfühlige, manchmal auch störrische junge Frau, und sie erkennt sich in der wohlwollenden, älteren Kollegin. Sie lächelt, denn sie weiss, wie schwer sich andere Schauspielerinnen in ihrem Alter tun, wenn sie ihre Rollen jüngeren Talenten überlassen sollen. Da sind viel Neid, Angst und Trauer mit im Spiel. Sie ist ein Mensch, der viel gesehen und erlebt hat und empfänglich geblieben ist für das, was man vielleicht erst auf den zweiten Blick erkennt.
War das ihr Erfolgsrezept? Bei diesem Wort muss sie lachen. Wie oft wurde sie in der Vergangenheit danach gefragt. Von Journalisten, Frauenrechtlerinnen, Kollegen. Ihr Leben war nie skandalumwittert, vielleicht geriet sie auch deshalb von den Medien ein wenig in Vergessenheit. Sie war nie eine Femme fatale, wenn sie sie auch des Öfteren gespielt hat – schön, charmant und geheimnisvoll, wie sie auf andere wirkte. Ihr Erfolg bestand für sie darin, dass sie ihre Bestimmung gelebt hat, indem sie das tat, was sie am besten konnte: Allem gegenüber, dem sie begegnet, Aufmerksamkeit und Respekt zu zollen.
Sie hat nie aufgehört, sich innerlich zu verneigen, vor denen, deren Rolle sie sich zu eigen gemacht und vor denen, für die sie gespielt hat. Sie malt sich die Schlussszene aus, wie es sein wird, wenn der letzte Vorhang fällt und sie mit frenetischem Applaus verabschiedet werden wird. Die Wertschätzung und der Dank für ihr unermüdliches Schaffen, ihr Lebenswerk … zu unbescheiden? So malt sie sich ihren letzten Auftritt aus. Die Realität sieht etwas anders aus. Seit zehn Jahren hat sie praktisch keinen Fuss mehr auf eine Bühne gesetzt. Und in den letzten zwei Jahren hat sie gar nicht mehr gespielt. Gründe gibt es viele dafür – auch nachvollziehbare. Da kam eine Seuche über das Land, die ganze Welt, das Theater blieb leer (politisches Theater wurde längst auf anderen Bühnen gespielt). Und dann kam der Krieg von Osten und brachte nebst Menschen auf der Flucht auch noch eine bis anhin erfolgreich verdrängte ökologische Krise ans Licht. Und die Leute fingen an, wacker zu sparen. Natürlich dort, wo es am wenigsten weh tut, also bestimmt nicht beim Fliegen und auch nicht beim Autofahren, nicht beim Duschen, Waschen und Lichteinschalten, auch nicht beim Heizen – wo kommen wir denn hin, wenn wir uns bei allem einschränken müssen? Sondern bei dem, was schon immer auf der Prioritätenliste ganz unten gestanden hat. Zerstreuung findet sich leichter beim Shoppen als im Theater. Da muss man sich wenigstens nicht auf andere einlassen, sich keinen unerwünschten Spiegel vorhalten lassen und nicht mit allem und jedem mitfühlen.
Ihr letzter Auftritt. Sie versucht, ihn sich vorzustellen, obwohl es absolut keinen Grund dafür gibt. Ihr letzter Auftritt ist schon längst vorbei, der Schlussvorhang gefallen und keiner hat es bemerkt. Auch sie selbst nicht. Vielleicht ist das gut so, denkt sie. Ein fulminantes Finale hätte sowieso nicht zu ihr gepasst. Und während sie in Gedanken über den Seiteneingang das Theater verlässt, spürt sie, wie sich etwas Erstarrtes in ihrer Brust zu lösen beginnt. «Gut gemacht», meint eine innere Stimme. Sie geht, geht los beschwingt und befreit. Sie nimmt für den Heimweg die Abkürzung über den städtischen Friedhof. Wie ruhig es hier ist, ruhig und friedlich. Sie setzt sich auf eine Bank und atmet tief durch. Ja, der letzte Auftritt. Sie kann sich kaum mehr an ihn erinnern. Macht nichts.
Die Bühne hat ihr nie wirklich gehört, genau so wenig wie das Leben, genau so wenig wie der Tod. Während sie so dasitzt, denkt sie, dass das Leben und der Tod alte Bühnenfreunde sein müssen, und sie fühlt sich seltsam geborgen an diesem Ort. Sie blickt auf die zahlreichen Grabfelder vor ihr, auf die mit Liebe ausgesuchten Grabsteine, die so vieles über die Toten und noch mehr über ihre Angehörigen erzählen, auf die frischen Blumen, die brennenden Kerzen und die geschmiedeten Laternen. Hier und dort hebt sich ein bemaltes Herz aus Stein oder Ton im mondschein leuchtend vom Hintergrund des Bodens ab, Zeichen der zärtlichen Verbundenheit der Überlebenden mit den Toten und sie hört dem nächtlichen Geplauder zu, das von überall her leise an ihr Ohr dringt. Sie hört hier ein Lachen, dort ein Weinen – Gespräche, Totengeflüster – wie bekannt ihr die Stimmen erscheinen – eine Sinnestäuschung?
Vielleicht. Ein leises Glücksgefühl steigt in ihr hoch und alles scheint sich zusammenzufügen zu einer wunderschönen Musik, die den Raum um sie herum erfüllt. Plötzlich weiss sie nicht mehr, ist es der Vorhang, der fällt, oder sie selbst? Schaut sie zu oder spielt sie mit? Ihre Gedanken drehen sich immer schneller und schneller und der Vorhang rollt und rollt sich ab, immer weiter und tiefer. Er fällt und fällt scheinbar endlos und noch im Fallen sieht sie ihr Leben an sich vorbeiziehen: die Menschen, die sie geliebt hat, die Rollen, die sie gespielt hat, die Jahre, an die sie nicht so gern zurückdenkt – alles Bruchstückhafte formt sich zu einem grossen Ganzen. Sie fällt und fühlt sich leicht, gibt sich dem Fallen hin und der Musik, von der sie nun Teil ist. Und sie spürt: Alles ist gut, richtig und schön, so wie es war, so wie es ist und auch nach ihr sein wird, wenn sich der Vorhang erneut aufrollt und die Bühne für andere freigibt.

ELSBETH ABEGG


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