Der graue Schleier – Eine Beobachtung über die Entwicklung unserer Gesellschaft.
06.03.2025 LeserbriefeIch bin steinreich. Wer mich kennt, weiss das. Ich liebe Steingärten und habe einige «besteinte» Ecken im Garten angelegt, neben Blumenbeeten, Bäumen, Biotop, Holzlager, Sandkasten, Hochbeet und Rasenflächen. Mit einigen Tonnen verschiedenfarbigem Bruchstein. ...
Ich bin steinreich. Wer mich kennt, weiss das. Ich liebe Steingärten und habe einige «besteinte» Ecken im Garten angelegt, neben Blumenbeeten, Bäumen, Biotop, Holzlager, Sandkasten, Hochbeet und Rasenflächen. Mit einigen Tonnen verschiedenfarbigem Bruchstein. Glattgeschliffene Kieselsteine gefallen mir nicht, obwohl sie dank ihrer polierten Oberfläche länger ansehnlich bleiben. Ich liebe Steine mit Ecken und Kanten. Ich möchte mit diesem Statement keine Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Steingärten lostreten. Ich weiss, dass dies nicht jeder toll findet. Es geht mir um etwas Anderes.
Ein Grund, warum mir Steingärten gefallen, sind die Schattierungen, Farben und Formen des Schotters. Da gibt es rötliche, grüne, mit weissen Adern durchzogene und kristallin glitzernde Unikate. Und dann ist da noch der Duft, den ein Steingarten nach einem warmen Sommerregen verströmt, wenn die aufgeheizten Steine sogleich Wasserdampf bilden und es «frisch geregnet» riecht. Doch die Bruchsteine bleiben nicht lange so farbig, wie am Anfang, unmittelbar nach dem Anlegen eines Steingartens. Nein, mit der Zeit gleichen sich die Steine mehr und mehr. Eine Dreckschicht überzieht sie, ein grauer Schleier aus Blütenstaub, Algen, Flechten und sonstigem Dreck nimmt die rauen Poren in Beschlag. Auch da sind die Gesteinsarten unterschiedlich. Die einen nehmen den Grauschleier schneller an, bei anderen geht dies langsamer vor sich. Und doch: Die allermeisten Steine sind früher oder später davon betroffen. Die scharfen Kanten werden diffuser, die sonst so klar scheinenden, offenen und glitzernden Bruchstellen blasser und die Vielfalt der Farben nimmt ab. Die einzelnen Kiesel können dagegen gar nichts tun und sie bleiben unansehnlich grau, gleich aussehend. Es sei denn, dass von aussen jemand eingreift.
Eine ähnliche Art der Gleichfärberei fällt mir in unserer Gesellschaft auf. Ein grauer Schleier beginnt unsere Gemeinschaften und das öffentliche Leben zu überziehen. Eigentlich hat es schon lange begonnen. Es scheint einen unausgesprochenen Konsens zu geben, wie man sich öffentlich zu verhalten hat und was man öffentlich kommunizieren darf. Ja, sogar unser Denken ist davon betroffen. Nicht nur die Wortwahl, sondern auch die Denkart, die wir durchblicken lassen, wird konsensmässig be-... oder soll ich eher sagen ... verurteilt?
Zuerst habe ich es in Politik und ausgewählten Kreisen beobachtet und belächelt. Doch seit geraumer Zeit macht sich dieser Konsens breit und breiter, getrieben von Social Media und renommierten Medienhäusern, und erfasst immer mehr Gesellschaftsschichten. Der graue Schleier verfestigt sich zum Courant normal. Wer sich daran hält, ist akzeptiert. Aber wehe, wenn nicht. Ächtung lauert. Und mit der Ächtung auch die Angst. Die Angst sich selbst zu sein, seine Meinung zu sagen, zu handeln, wie einem zumute ist, zu sagen, was man glaubt. Eine Angst, die Stimmen verstummen und Finger lahm werden lässt, sodass sie nicht mehr die ehrliche Meinung in die Tasten hauen.
Haben wir verlernt eine andere Meinung, wie skurril sie auch in unseren Augen erscheinen mag, anzuhören (statt nicht mehr hören zu wollen), stehen zu lassen (statt zu verurteilen) und dem Menschen, trotz gegenteiliger Meinung, Respekt zu zollen? Wir müssen ja nicht gleicher Meinung sein, sollten aber immer noch unvoreingenommen Dialoge führen dürfen. Oder sehe ich das falsch? Ich befürchte, dass auf diese Art der «Unterdrückung» viel Farbe in unserer Gesellschaft verloren geht. Ja, es mag sein, dass mein Gegenüber Ecken und Kanten hat, die mir nicht passen, ich mich daran stosse und vielleicht auch mal daran verletze. Aber darf ich ihm deshalb das Recht aberkennen, eine andere Meinung auszusprechen, anders zu handeln und zu denken? Darf ich ihn als Menschen deshalb verachten?
Mir ist bewusst, dass es Grenzen gibt, die nicht überschritten werden dürfen, dass Menschenhass und egozentrische Willkür bekämpft werden müssen und noch vieles mehr. Aber wenn jemand der kulturellen Aneignung beschimpft wird, nur weil es ihr oder ihm gefällt, sich Rastalocken zu machen, wenn das falsche Verwenden oder das einfach Ignorieren vom Sternchen-Setzen beim Schreiben, weil es besser gefällt und sogar noch verständlicher ist, einen Shitstorm auslöst oder wenn man(n) sich hüten muss, als «alter, weisser Mann» durchzugehen, dann muss ich schon den Kopf schütteln. Was läuft hier schief?
Wofür oder für wen wird denn hier Partei ergriffen? Ich stelle einfach mal Fragen, weil ich es nicht verstehe.
Was ich verstehe ist der Umstand, dass ich mir keine Rastalocken machen werde, ich wüsste nicht womit und es würde vermutlich echt spassig aussehen, wenn ich aus dem Rest Haare auf meinem Kopf eine Rastalocke hervorzaubern könnte. Ich freue mich jedoch an der Freude eines anderen, der diese Frisur schätzt und macht – soll er oder sie doch, ich muss es ja nicht gleichtun.
Was ich auch weiss: Ich schreibe gerne in der Sprache, die mir gelehrt worden ist. Mit den Satzstellungen und der Grammatik, wie ich glaube, dass die Leute mein Geschriebenes verstehen. Und ich verfolge damit keine nebulöse Agenda. Ich möchte einfach verstanden werden, wenn ich schreibe. Wenn ich vor lauter Sterne, den Text nicht mehr sehe, macht das wenig Sinn! Das ist meine Meinung und möchte deshalb nicht zu den «Ewiggestrigen» gezählt werden.
Und: Ich bin (bald) ein alter weisser Mann, mit allem, was mich dazu gemacht hat – einfach zugefallen oder erarbeitet. Und wer weiss, ausser mir, was das alles ist, das mich zu dem geformt hat, der ich bin.
Wer nimmt sich das Recht, dies schon im vorneherein als suspekt und verdächtig darzustellen, nur weil es vielleicht solche Männer gibt, die genau dem Feindbild des oben erwähnten Konsenses entsprechen. Der Grauschleier lässt grüssen und verdeckt meine wahren Farben.
Was mich verändert, ist der ehrliche Blick in mein Inneres und das Auseinandersetzen mit mir und meinen Marotten und nicht eine von aussen aufgezwungene Doktrin. Ich will ein Unikat bleiben und von lauter Unikaten umgeben sein. Im Gegensatz zu totem Stein kann ich mir ein Herz fassen und mich gegen den grauen Schleier wehren. Und Sie?
Ich habe gehört, dass Worte manchmal die Wirkung eines Hochdruckreinigers haben. Schön, wenn nach dessen Einsatz die Farben der Steine wieder besser zur Geltung kommen.
Danke, dass Sie mir Ihr Ohr, ääh. Ihre Augen geliehen haben. Es war mir eine Freude, meine ehrliche Meinung mit Ihnen teilen zu dürfen.
STEFAN WANZENRIED, WITTENWIL