Der Fröhlichste unter den Fröhlichen – bis zur Krankheit
04.10.2022 ElggDorfärzte gehören zu den geachteten, geschätzten, belobten, beliebten bis geliebten, ja für unersetzlich gehaltenen, aber auch besprochenen, zuweilen hinterfragten, kritisierten, akademisch ausgebildeten Fach- und Gesellschaftseliten. Wenn sich daher der Ärzte und Ärztinnen halber im Dorf eine Veränderung oder gar ein endgültiger Bruch ankündet und vollzieht, gilt es mindestens sich äusserlich und innerlich neu zu orientieren. Es erstaunt daher wenig, dass die Regionalzeitung, exakt vor 100 Jahren, die Leserschaft und Patienten im Dorf im folgenden «Eingesandt», einer bestürzenden Hiobsbotschaft bedient:
«Wie ein Lauffeuer, nein, eine Schreckenskunde, ging es am Mittwochmorgen durchs Dorf: Dr. Heinzer ist nicht mehr! Wohl hatte man ihn seit Wochen vermisst und wusste, dass er leidend sei. Aber niemand ahnte, dass sein Ende so nahe, der tüchtige, liebenswürdige Arzt nicht mehr unter uns erscheinen würde.
Dr. Heinzer entstammte einer einfachen Familie im Muotathal. Wohl darum verstand er es, wie wohl kein Zweiter, mit den Leuten vom Lande zu verkehren. Er achtete ihre Arbeit und seine freundliche Art gewann ihm die Herzen von Reich und Arm, Gross und Klein. im Jahre 1897 kam Dr. Heinzer nach Elgg, gründete sich einen eigenen Hausstand und übte hier seine Praxis bis an sein Lebensende. Er war eine Kraftnatur mit einem Gemüt voll Sonnenschein. Voll Mut und Berufstreue ging er an die schwersten Fälle, behandelte die schlimmsten Wunden und hatte eine eigene Gabe, die Krankheiten zu erkennen. So kam es, dass sein Ruf weiter drang, die Praxis sich vergrösserte. Gerne sass der junge Arzt in frohem Kreise. Er duldete keine gemeinen Reden, aber unter den Fröhlichen war er oft der Fröhlichste. Wo man sang, da sang er mit, bis zuletzt alles seiner schönen, klaren Stimme lauschte. Man staunte oft ob seiner alles umfassenden Bildung. Im Reiche der Kunst, Musik, Literatur war er daheim und hatte ein klares, gediegenes Urteil. Seine Erklärungen wurden oft unbewusst zum feinsten, fesselnden Vortrag.
Aber auch die stärkste Eiche kann brechen, die zäheste Natur im Laufe der Jahre erkranken. Die anstrengende Arbeit bei Tag und Nacht, die Besuche in der weiten Umgebung bei allem Wetter blieben nicht ohne Folgen. Manch ein Patient meinte: ‹Unser Doktor sieht schlecht aus, er ist wohl kränker als ich selbst.› Aber er wollte nichts von Schonung wissen. Zu Fuss, per Rad, Auto, das ihn oft schnöde im Stiche liess – in den letzten Jahren per Töff machte er seine Besuche. Und schon sein Erscheinen, seine freundliche Stimme brachten oft hellen Sonnenschein ins Krankenzimmer. Mit der Zeit wurde sein Zustand ernster. Er ging selten mehr nach auswärts, seine Kraft reichte gerade noch für das Dorf und die zahlreichen Patienten in der Sprechstunde. Da stand er noch Tag für Tag, selbst leidend, untersuchte, verband, riss grossen und kleinen Knaben und Mägdlein die Zähne, dass es eine Freude war. Und nachts, wenn andere schlummerten, führte ihn oft noch das Gefährt wieder in Nacht und Nebel hinaus zu einer Wöchnerin. Wie war er glücklich, wenn er nach bangen, schweren Stunden Mutter und Kind dem Tode abgerungen.
Enttäuschungen blieben ihm wohl auch keine erspart. Wie oft mag er am Sterbebett lieber Menschen gestanden sein, um sein Unvermögen, seine menschliche Ohnmacht bitter zu empfinden. Wie weh tat es ihm, dass mit der Zeit viele Kranke ihm ihr Vertrauen entzogen, weil er so selten sich mehr zeigte. Und mag er es wohl gefühlt haben, dass sein Todesengel nahe war, wenn er oft, statt mitzuhalten, still aus fröhlichem Kreise verschwand? Wenige ahnten, wie krank er war, bis unerwartet am Abend des 29. August der Tod ihn von seinen Leiden erlöste. Zu früh ist er gegangen – für seine Familie, für alle, denen er ein Freund und Helfer war.
Jeder Mensch hat seine Feinde, besonders ein Arzt. Dr. Heinzer konnte es auch nicht allen recht machen. Aber nebst den Schattenseiten gab es so viel Schönes, Sonniges, Grosses in seinem Leben und Wirken, dass es das andere überstrahlte. Wir, die ihn kannten und liebhatten, werden ihn nicht vergessen und senden ihm den letzten Dankesgruss ins stille Grab.»
Alwin Kappelers Widmung
Dem Nachruf folgt gleichzeitig eine Widmung in Versform von einem Alwin Kappeler, der damals bekannt gewesen sein dürfte, heute jedoch keinen weiteren Nachklang mehr finden kann. Seine Verse für den verstorbenen Arzt jedoch dürften viel von der Gemütslage im Dorf, die öffentliche Trauer, den Schmerz, das Bedauern, die Wertschätzung und die Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Sie vermögen nicht nur die damaligen Gefühle in Versform zu fassen, sie berühren auch nach 100 Jahren.
Widmung an Dr. A. Heinzer:
DER TOD HAT JÄH EIN ZIEL GESETZT
IHM, DER SO MANCHEM RETTER WAR
VIELLEICHT WAR ES IHM OFFENBAR
DOCH ER VERSCHWIEG ES BIS ZULETZT.
ER WAR EIN MEISTER SEINER KUNST
UND RICHTETE MANCH HERZ EMPOR
MIT SEINEM GOLDENEN HUMOR
ERWARB BELIEBTHEIT SICH UND GUNST.
DIE ERNSTE PFLICHT, DIE IHM GEBOT,
RIEF IHN BEI STURM UND NACHT HINAUS
WIE RANG ER HEISS IN HARTEM STRAUSS
OFT UM EIN LEBEN MIT DEM TOD!
ER LIEBTE DIE GESELLIGKEIT
UND PFLOG DAS SPIEL UND PFLOG DEN SANG,
DEN LIEBGEWORDENEN ALTEN HANG
AUS FRÖHLICHER STUDENTENZEIT.
DER KIRCHE FREMD, DER GOTTHEIT NAH,
NICHT WORTE, TATEN ALS GEBET,
ER, DER AN MANCHEM STERBEBETT
DEN MENSCH IN SEINER OHNMACHT SAH.
UND HATTE ER MANCHMAL DIE PFLICHT
VERSÄUMT ALS KRANKER MÜDER MANN,
HAT ES IHM SELBER LEID GETAN –
DOCH DER GERECHTE ZÜRNT IHM NICHT.
SO MANCHER, EINST ZUM TODE KRANK,
DEN ER AUFS NEU DEM LEBEN GAB,
STEHT HEUT BETRÜBT AN SEINEM GRAB,
IM HERZEN TIEFGEFÜHLTEN DANK.
Der Arzt ist tot – es lebe der Arzt
Die amtliche Todesanzeige jedoch hat sich kurz zu fassen: «Elgg, Beerdigung Samstag, den 2. September 1922 nachmittags 3 Uhr, Alois Heinzer, Arzt von Muotathal Kt. Schwyz, Alter 57 Jahre 2 Monate 27 Tage.» Die Kanzleisprache mag zwar korrekt und spröde wirken, meint aber, leichter die nüchterne Ausrichtung auf die nächsten Tage und Wochen zu ermöglichen, den dringlichen Fortgang hausärztlichen Dienstes.
Der Dorfhistoriker wiederum vermag zwar den Verstorbenen zu ehren: «Die hohe Gestalt dieses sympathischen Mannes und trefflichen Arztes ist den älteren Elggern noch in bester ErinnErung.» Das wird heute noch von ausserordentlich selten gewordenen, im hohen Alter stehenden Dorfbewohnerinnen über ihre Drittzeugen bestätigt. Aber der Historiker setzt den Singulären in einen grösseren Rahmen und relativiert die Besonderheit. Unter «Heinzers Vorgängern» seien Dr. Hch. Büchi (1794-1864) und Dr. Hermann Zuppinger (1849-1912) genannt; der Letztere erbaute 1882 das Doktorhaus an der Bahnhofstrasse, wo 1897 der Neue seine Praxis aufnahm. Ihm sind später Dr. Willi Haubensak und Dr. Hans Stokar gefolgt.
War Alois Heinzer erst am 29. August 1922 verstorben und am 2. September beerdigt, tritt Ende OktOber bereits eine neue Arztpersönlichkeit auf den Plan und wird per Inserat der Öffentlichkeit vorgestellt: «Dr. med. Hans Stokar, gewesener Assistenzarzt am Krankenhaus Frauenfeld und an der medizinischen Abteilung des Kantonsspitals Winterthur, hat die Praxis von Herrn Dr. med. A. Heinzer, selig, übernommen. Sprechstunden nachmittags von 1 bis 4 Uhr, sonntags ausgenommen.»
Und schon anfangs November ruft der örtliche Samariterverein unter der Leitung des noch jugendlichen Arztes Dr. med Hans Stokar (1894-1962) zu einem Krankenpflegekurs: «Der Samariterverein Elgg gedenkt in nächster Zeit einen Krankenpflegekurs, unter Leitung von Herrn Dr. med. H. Stokar und unserer Krankenschwester Fräulein Amalie Grob, durchzuführen. Wir laden daher alle die verehrten Frauen und Töchter von Elgg und Umgebung, die sich dafür interessieren, zur zahlreichen Beteiligung höflichst ein. Anmeldungen nimmt bis spätestens Mittwoch, den 8. November, entgegen: Fräulein Emma Büchi, Kassierin. Der Vorstand.»
Der Autor findet für Vergangenheit, Gegenwart und hoffentlich auch für die Zukunft kein wünschenswerteres Berufsverständnis, als wie sie der unvergessliche Karl Barth in seinem theologischen Monumentalwerk der «Kirchlichen Dogmatik» formuliert: «Der Arzt ist der Mensch, der sich vor anderen auszeichnet durch seine auf Überlieferung, Forschung und täglich sich erneuernde und korrigierende erfahrung begründete allgemeine Wissenschaft vom seelisch und leiblich gesunden und kranken Menschen. Er ist von daher in der Lage, sich über den seelischen und leiblichen Gesundheits-, beziehungsweise Krankheitszustand anderer ein objektives Urteil zu bilden und fähig, ihnen in ihrem gebotenen Bemühen, gesund zu bleiben oder wieder zu werden, durch seinen Rat, seine Weisung und nötigenfalls durch seinen direkten Eingriff beizustehen.»
MARKUS SCHÄR