Der fröhliche Hegnauerbrunnen wird 150

  14.07.2022 Elgg

Manche der Elgger Brunnen sind nicht nur Schmuckstücke der Gassen. Sie sind auch unverwechselbare Charaktere. Sie wirken durch sich selbst, aber auch in und mit ihrer baulichen Umgebung. Sie laden ein, ziehen auf und an sich, begleiten und entlassen wieder.

An der Schnittstelle Äussere Vordergasse und dem direkten Weg aus der Vordergasse zum Kindergarten plätschert ein Fröhlicher – munter, sicht- und hörbar. Er hat es besonders gut, weil er abseits vom Lärm, inmitten voller Aufmerksamkeiten stehen darf. Umgeben von abwechslungsreichen Gebäude-Ensembles, mit einigen neckischen Dächern und sorgfältig in Holz gekleideten restaurierten Hauswänden. Auch diskret durch die Fensterscheiben mögen ihm viele achtsam, gewogen, vielleicht sogar um ihn besorgt sein, hoffend, ihn niemals zu verlieren. Sie werden ihn sogar lieben, den fröhlichen Wasserspender.
Er wiederum gibt sich quirlig bescheiden, rühmt sich keines imposanten weiten Platzes. Er vergnügt sich geradezu damit, im Hinterhof abseitszustehen. Die vorbeitrippelnden Kinder machen ihn glücklich genug. Weil ihn auch die Erwachsenen ehren, ist seine Säule mit bunten Blumen bekrönt. Auf seiner Stirnseite zeigt er, wann seine öffentliche Wohltat begann: im Jahr 1872. Das sind 150 Jahre! Man könnte auch «vor fünf Generationen» sagen. Seine technischen Daten sind: Grösse: 280 mal 110 mal 50 Zentimeter; Zuleitung: Quelle im Riet; Wasserleistung: drei Liter pro Minute; Restauration 1999.

Was für ein Brunnenleben?

Dieser Brunnen aber ist kein Einzelkind. Er ist nicht als Single aufgewachsen, nicht allein in die Jahre gekommen, um schliesslich derart übermenschlich alt zu werden. Man kann ihn einer ganzen, beinahe gleichaltrigen Brunnenfamilie zuordnen. Er hat einige Geschwister. Auch sie stehen nicht im Fokus der Bewunderung. Auch sie wurden zwischen 1870 und 1880 innerhalb zehn Jahren erstellt. Karl Mietlich zählt dazu denjenigen beim «Obstgarten» (um 1875), jenen bei der Hafnerei (1874), den Oehningerbrunnen bei der Untermühle (1877) und den Stationsbrunnen (um 1875) neben der Brücke.
Wie im Jahr 1872 der neue Brunnen zu laufen begann, hatte sich die Gemeinde längst zum schweizerischen Bundesstaat bekannt, war die örtliche Sparkasse begründet, die Bahnlinie Winterthur-Wil eröffnet. Man traute die öffentliche Sicherheit den Gesetzeshütern in der eigenen Polizeistation an. Der Fahrenbachweiher war erstellt. Ein Jahr vor dem ersten Wasserstrahl in diesem Brunnen fanden Internierte der Bourbaki-Armee Unterkunft und Betreuung. Im Jahr 1872 wagte man einen ersten Stickerei-Betrieb einzurichten und baute anstelle der Seegasse die Bahnhofstrasse. Nur vier Jahre später wütete der grosse Brand mit dem Ende der Markttradition. Die Armenpflege musste fortan die Politische Gemeinde übernehmen.

Saubere Brunnen

Auch heute noch gehen Menschen zu den Dorfbrunnen, um für ihren Haushalt Wasser zu holen. Sie ziehen immer noch das Brunnen- dem Leitungswasser vor. Und vielleicht treffen sie eine bekannte oder unbekannte menschliche Seele. Dann kann der Brunnengang zu einem Schwatz, Kontakten oder gar einer Begegnung führen. Aber zur Regel für die Allgemeinheit ist diese Art von Selbstbedienung nicht geworden. Die meisten drehen die Wasserhähne lieber zu Hause.
Die Jahrzahl am Hegnauerbrunnen jedoch zeigt, dass sich in Elgg noch Ende des 19. Jahrhunderts ein grosser Teil des täglichen Lebens im Freien bei den Brunnen abspielte. Hier konnte man sich treffen und erfuhr vom Neusten. Die Brunnen waren für Menschen und Tiere nützlich und notwendig. Für die Wäsche der Waschfrauen und sonstige Verunreinigungen allerdings waren nicht alle Brunnentröge bestimmt. Ihnen war ein besonderer Brunnen zugeordnet. Man hatte damals bei ihnen strikte auf die Hygiene zu achten. Der Brunnenmeister, schon im 16. Jahrhundert ein wichtiger, ausgesuchter, vom Volk gewählter Angestellter der Gemeinde, war rundum für die Wasserqualität verantwortlich.

Brunnentheologie

Die Brunnensäulen werden heute noch mit Blumen geschmückt. Wenn man aber genauer hinschaut, beim Obergass- oder Meisenbrunnen, findet sich teilweise noch eine andere, frühere, eher zum Nachdenken anregende Bekrönung. Es sind Brunnensäulen, die sich mit schlichtester Symbolik krönen. Man sah also die Brunnen noch anders. Vielleicht bildet sich darin etwas vom damaligen Zeitgeist und Zeiteinflüssen ab. Es waren christliche Einflüsse. Das Alte Testament zum Beispiel handelt an manchen Stellen von Brunnen. Sie waren und sind ja für das wasserarme Palästina überlebenswichtig. Daher die Arbeitslieder beim Graben von Brunnen, die Mitteilung von Streitigkeiten der Hirten um deren Besitz und die vielen, mit Brunnen (Beer) zusammengesetzten hebräischen Ortsnamen: Beer-Elim, Beer-Seba, Bee-roth.
Das Alte Testament überhöht die realen Brunnen auch ins Bildliche. So steht der Brunnen in Hohes Lied 4,12-15 für die Geliebte; in Sprüche 5,15-18 für die Gattin; in Sprüche 23,27 für die Dirne. Wasser aus dem eigenen Brunnen trinken, ist nach Jesaja 36,16 ein Bild für Frieden und Gedeihen. Nach Jeremia 6,7 erhält die Stadt ihre Bosheit, wie der Brunnen sein Wasser frisch erhält.
Die christliche Tradition bewahrt in Johannes 4,1ff ein ausgesprochen bildhaftes Verständnis vom Brunnenwasser. In der Begegnungsgeschichte von Jesus und der Frau aus Samaria am Jakobsbrunnen: Das Ende einer Gebundenheit und Gemeinschaftslosigkeit durch das Wasser des Geoffenbarten.

Der Hegnauerbrunnen und die Hegnauer

Der Brunnen an der Kreuzung Äussere Vordergasse/Kindergartenweg wird schon seit langem als Hegnauerbrunnen bezeichnet. Bereits die alten Ratsbücher erwähnen ihn unter diesem Namen. Damit wird auch an die Familie Hegnauer erinnert, die in seiner Nähe an der Vordergasse wohnte. Die Hegnauers gehören seit dem 15. Jahrhundert zu den ältesten Bürgergeschlechtern im Flecken. Uli Hegnauer war im Jahr 1474 Gutsverwalter der bis zur reformation aktiv bewirtschafteten Heilig-Kreuz-Pfrund in der neuerbauten nahen Stadtkirche. Die Heilig-Kreuz-Pfründe hatten ihre Einkommen von verschiedenen Gütern aus Elgg und Umgebung. Der Heilig-Kreuz-Altar wiederum – von einem der vielen Kapläne bedient – stand, im Gegensatz zu den anderen Wandaltären, frei, am Übergang vom Schiff zum Chor, im Bereich des Lettners, der steinernen Lesebühne, die das Laienschiff vom Kleriker-Chor trennte. Kapläne an der Heiligen-Kreuz-Pfründe waren vor der Reformation Hans Klinger und Hans Bentz und als letzter Vertreter der katholischen Priester (nebst dem reformierten Pfarrer Schlegel) Jörg Markstein. Es waren schwierige sogenannte «paritätische» Verhältnisse. Ein konfessionell verschiedenes Wirken in Messe und Wortgottesdient in demselben Raum.
Im Jahre 1512 zog ein Hans Hegnauer mit anderen Reisläufern über die Alpen nach Norditalien. Mit ihnen wurde er für seinen Einsatz in Pavia vom Papst mit dem bekannten Juliusbanner ausgezeichnet. Auch später gehörten die Hegnauer im Dorf nicht zu den Drückebergern, Stillsitzern, Teilnehmern und Festbrüdern. Der Schärer Johannes Hegnauer verfasste jedenfalls 1711 drei scharfe Klageschriften gegen die örtlichen Behörden, wegen ihrer Weigerung, den Ertrag an Heu und Emd im Riet im Dorf zu verteilen. Die Klage trug er mit anderen Mitstreitern in Zürich vor Bürgermeister und Rat.
Zu den prominentesten Hegnauern zählt jedoch die hervorragende Persönlichkeit des Heinrich Hegnauer (1765- 1835), der das damals in der Familie schlummernde «Aufwiegler-Gen» geerbt zu haben schien. Es war der grosse revolutionäre Umschwung zur Franzosenzeit, der seine politische Karriere bis zum Oberrichter im obersten helvetischen Gericht beförderte. Für seinen eigenen Sohn jedoch sah er die Schule und Lehrer in Elgg absolut nicht förderlich. Nur die beste Schule, Heinrich Pestalozzis Internat in Yverdon, hielt er für gut genug. Die Zusage des international vernetzten und anerkannten Pädagogen Pestalozzi erhielt der Oberrichter in Elgg schriftlich. Aber nur unter der Bedingung, dass der Zögling aus der Vordergasse sein eigenes Bett mit ins Welschland transportieren lasse.

MARKUS SCHÄR


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote