Der erste Schultag
13.08.2024 MaischhausenGestern war Schulbeginn in der Gemeinde Aadorf. Vor 90 Jahren startete der Schulunterricht noch im Frühling, nicht wie jetzt im August. Der 2016 verstorbene Alfons Kressbach aus Maischhausen beschrieb seinen ersten Schultag 1934 in einer Sammlung von Lebenserinnerungen unter dem Titel ...
Gestern war Schulbeginn in der Gemeinde Aadorf. Vor 90 Jahren startete der Schulunterricht noch im Frühling, nicht wie jetzt im August. Der 2016 verstorbene Alfons Kressbach aus Maischhausen beschrieb seinen ersten Schultag 1934 in einer Sammlung von Lebenserinnerungen unter dem Titel «Vom Täniker Tal zum heiligen Strich – Allerhand aus dem Tannzapfenland»:
«Nach Ostern 1934 war es, da begann für mich eine neue Zeitrechnung. Der erste Schultag! Zu diesem Anlass kriegte ich eine Hose mit modernem Schnitt. Vor dem Weg in die Ungewissheit erhielt ich noch den Auftrag, den Hühnern den Stall zu öffnen, was ich auch folgsam machte. Kurz hielt ich mich im Hühnerstall auf. Darauf verspürte ich am ganzen Körper einen unangenehmen Juckreiz. Ich bin mir heute noch nicht sicher, waren Hühnerläuse oder die Aufregung wegen dem bevorstehenden Schulbesuch die Ursache.
So zogen die Nachbarskinder Ida, Köbeli und ich Richtung Schulhaus, schön Händchen haltend. Köbeli war etwas schwächlich. In mütterlicher Bange um ihr Sorgenkind hatte seine Mutter mich gebeten, auf ihn aufzupassen und mich seiner anzunehmen. Als Entgelt wurden mir feine Schäfli-Birnen in Aussicht gestellt, welche ich sehr mochte. Der Baum, wohl hundertjährig, bringt noch immer die verlockenden Früchte. Den wichtigen Lebensschritt mussten wir alleine tun, die Eltern hatten keine Zeit, uns zu begleiten. Sie mussten alle hart arbeiten.
Noch ein kurzes Verweilen bei den Gspänli der ersten Stunde: Köbeli zog alsbald mit seiner Familie auf den Luttenberg ob Wiezikon. Dort war die heile Welt für den genügsamen Menschen. Die räumliche Abgeschiedenheit, die immer wiederkehrenden Wunder der Natur und der Hauch der Tiere bedeuteten das Paradies. Kameradin Ida und Köbi sind leider beide nach der Lebensmitte heimgegangen, die Herzen versagten ihre Tätigkeit.»
Peinlicher Moment
«Ein Stück weiter stand Alois bereit. Die Mutter verabschiedete ihn mit guten Ratschlägen. So nebenbei musterte sie mich und auch die neue Hose. Dabei, oh Schreck, entdeckte sie, dass die Knöpfe einer bestimmten Öffnung an der Hose nicht geschlossen waren. «Ja, aber so kannst du nicht in die Schule», sagte sie mit ihrem breiten Aargauer-Dialekt, nahm mich beiseite und brachte die Knöpfe in die richtige Position.
Ach Gott, am liebsten wäre ich zur Schnecke geworden vor Scham, weil eine fremde Frau an einem solch delikaten Ort herumfummeln musste. Ansonsten bin ich der Frau mit Respekt begegnet. Aber den Eingriff in meine private Sphäre habe ich nie ganz vergessen. Die Schamröte im Gesicht verblasste allmählich und vereint war das Schulhaus das angestrebte Ziel.»
Fast ein Halbgott
«Gegen 20 Erstklässler versammelten sich, von Lehrer Baumbergers sonoren Bassstimme freundlich begrüsst. Der Mann machte mir grossen Eindruck, fast wie ein Halbgott, war er doch derjenige, welcher in den nächsten Jahren meine Entwicklung nachhaltig beeinflussen sollte. Er schien ein gutmütiger Herr zu sein, mit ansehnlichem Bauch.
Sie müssen wissen: Wegen der Wirtschaftskrise und grossen Arbeitslosigkeit waren gar harte Zeiten. Da war eine «Pauke» schon ein gewisses Statussymbol. Heute ist es absolut unmodern, «Bauch» zu tragen.
In der Folge bekam jeder Neuling seinen Platz zugewiesen und durfte seinen Namen bekanntgeben. Bei der Auslage der Schulsachen erlebte ich eine weitere Schmach. Statt einer währschaften Schreibtafel hatte ich nur eine solche, wie man sie zum Jassen gebraucht. Schon war ich zum Gespött geworden und wurde mitleidig belächelt.
Gegen Ende der Stunde holte der Lehrer seine Fiedel hervor und gab sein Können zum Besten. Das Spiel war nicht überaus virtuos, konnte es auch wegen den massigen Fingern nicht sein. Aber schön war es allemal, hörte und sah ich doch erstmals eine Geige spielen. Er entlockte dem Instrument die Melodie «Aus dem Dörfchen da drüben, vom Turme herab, da läuten die Menschen den Tag zu Grab …». Spontan stimmten die anderen drei Klassen mit ein. Das Lied hat mich zeitlebens begleitet, und an Klassentreffen erklingt es regelmässig.»
(Fast) immer Zweiter
«An diesem denkwürdigen Tag lernte ich R. kennen. Gleichentags strebten wir beide zum Licht der Welt. Ich hatte die Nase leicht vorne und gewann mit ein paar Minuten Vorsprung. Schon 75 Jahre gleichen sich unsere Wege. Wir haben gearbeitet und gesorgt. Oftmals gabs kaum Zeit zum Leben, man wurde gelebt! Viele Jahre hat der Gesang im Männerchor uns beglückt, wir haben Freude gehabt und Freundschaften gepflegt.
Bei so viel Gemeinsamkeiten stellt man unweigerlich Vergleiche an. Eines habe ich realisiert. In beinahe allen Belangen ist mir mein treuer Begleiter (diese Bezeichnung werde ich nie mehr verwenden) stets ein Quäntchen voraus gewesen. Es begann schon in der Schule, bei der militärischen Karriere oder der beruflichen Anerkennung. Auch in der Anzahl der Nachkommen bin ich Zweiter geblieben. Von der Vorbildfunktion im Alltag ganz zu schweigen!
Weitere Schultage reihten sich an. Kam der Lehrer mal am Mittag mit einem Stumpen aus der nahen «Sonne» in die Schulstube, ging ein Raunen durch die Klassen: «Juhui, de Lehrer hät de Guete». Meistens schaute dann ein Spaziergang in Feld und Wald oder dann eine Vorlesestunde aus Grimms Märchenbuch heraus.
Die Exkursionen in die Natur waren stets eine spannende Sache. Von jedem Blümlein und Vögelein konnte der Begleiter uns den Namen lehren und die Zusammenhänge erklären. Meine Neigung zur Natur und das Verständnis für die Kreatur hat den Ursprung in den geführten Erkundungen.»
Es gab auch andere Seiten
«Der Schulmeister konnte auch andere Seiten aufziehen. Dann wehe, wenn er losgelassen! Beim Gesangsunterricht beispielsweise sauste der gefürchtete Geigenbogen als Kopfnuss auf die Häupter der Allotria treibenden Buben nieder. Einmal so sehr, dass das Züchtigungsmittel zerbrach. «Der Geigenbogen sprang und die Fiedel nicht mehr klang», so würde der Dichter offenbaren. Nicht zu vergessen sind die Verzweiflungsausbrüche bei begriffsstutzigen Schülern. «Lieber einen Fisch klettern lehren, als euch das Einmaleins beibringen», hallte jeweils das kräftige Organ in Basslage durch den Raum.
So hat halt das Idol auch einige Kratzer abbekommen. Im Nachhinein ist es auch verständlich. Bis zu 60 Schüler in vier Stufen hatte der Lehrer zeitweise zu bändigen. Deshalb war der Stundenplan meistens flexibel gehalten.
In den oberen Primarklassen hatte ich abermals Glück. Lehrer Häni war mein Mentor. Ein ausgezeichneter Pädagoge und glühender Patriot. Die Liebe zur Heimat hat er seinen Schülern regelrecht eingeimpft.»
Alfons Kressbach beendet seine Erzählung mit der Feststellung: «Ja meine Lieben, mittlerweile bin ich vom ersten Schultag gar etwas weit abgedriftet.» Unterhaltend war es allemal.
ALBERT BÜCHI
Der Autor
Alfons Kressbach (28.2.1928 bis 21.8.2016) übernahm 1957 von seinem Vater die Schmiede Kressbach in Maischhausen. Er war aktives Mitglied im Männerchor, wo er auch zum Ehrenpräsidenten ernannt wurde, und in der Männerriege. Kressbach war zudem für einige Jahre Präsident der Schulgemeinde Guntershausen.