Das Wohnzimmer als Lesetreff
27.11.2025 ElggIn Elgg trifft sich alle zwei Monate eine kleine Männergruppe, um über Literatur zu sprechen. Zwischen Kaffee, Guetslis und Büchern wie Meyerhoffs Biografie entstehen Gespräche über Familie, Lebenskrisen und persönliche Perspektiven – ganz ohne Bewertung.
...In Elgg trifft sich alle zwei Monate eine kleine Männergruppe, um über Literatur zu sprechen. Zwischen Kaffee, Guetslis und Büchern wie Meyerhoffs Biografie entstehen Gespräche über Familie, Lebenskrisen und persönliche Perspektiven – ganz ohne Bewertung.
In der guten Stube von Kurt Müller herrscht an diesem Mittwochnachmittag im November eine konzentrierte, aber entspannte Atmosphäre. Drei Männer sitzen um einen runden Tisch, auf dem Kaffee, selbstgebackene Guetsli und Mineralwasser bereitstehen. Ihr zweimonatliches Treffen ist für sie ein fester Termin – ein Ort, an dem sie Gedanken austauschen und persönliche Kontakte pflegen. Sie nennen sich schlicht «Männerlesegruppe».
Die Gruppe besteht seit gut einem Jahr und hat bisher fünf Bücher gelesen – querbeet durch Stil, Thema und Perspektive. Sie legen Wert auf Vielfalt und lesen bewusst nicht nur männliche Autoren, sondern auch Werke von Schriftstellerinnen. Wenn möglich, besuchen sie gemeinsam Lesungen in der Region.
Ein Buch, das Erwartungen weckte
Heute liegt «Man kann auch in die Höhe fallen» von Joachim Meyerhoff auf dem Tisch. Die Diskussion beginnt locker, doch rasch widmen sich die Männer den zentralen Figuren und Motiven des Buchs. Gastgeber Müller stört sich an der stark idealisierten Darstellung der Mutter: «Alles wirkt manchmal ein bisschen unrealistisch.» Hans-Peter Spahni ergänzt: «Ich bin enttäuscht, dass er nicht beschreibt, wie es ihm wirklich geht. Es dreht sich alles um die Mutter.» Zudem regeneriere sich der Autor bei ihr «aber wir erfahren nicht, warum gerade dort und warum gerade jetzt – das bleibt oberflächlich», sagt Spahni.
«Die Erwartungen an das Buch waren hoch», sagt Müller. «Das Interview in der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie», das Barbara Bleisch mit Meyerhoff geführt hat, hat mich beeindruckt. Ich wollte deshalb genau dieses Buch lesen.» Spahni pflichtet bei: «Ich habe alle seine Bücher gelesen. Meyerhoff gibt darin faszinierende Einblicke in seine Familie. Die Geschichten über seine Kindheit und den Vater, der eine psychiatrische Klinik leitete, haben mich immer gepackt.» Doch Meyerhoffs neues Buch tat dies nicht im gleichen Masse.
Respektvoller Austausch statt Bewertung
Dass es ihnen nicht um literarische Leistungsmessung geht, wird beim Gespräch schnell klar. «Man kann einfach zuhören», sagt Ernst Bühler, der selbst Gedichte schreibt und in Hagenbuch lebt. «Es ist spannend zu sehen, was andere wahrnehmen.» Die Gespräche wechseln zwischen Beobachtungen zu Stil, persönlichen Erfahrungen und kleinen Anekdoten.
Auf die Frage, warum es für viele schwierig ist, sich ihrem Lesekreis anzuschliessen, meint Müller: «Viele denken, man müsse sich gut in Literatur auskennen, um zu uns zu stossen.» Das sei aber nicht so. «Jeder ist willkommen, der gerne liest», betont Müller. Die Gruppe möchte einige neue Mitglieder gewinnen, aber bewusst klein bleiben – fünf bis zehn Personen seien ideal, damit jede Stimme Platz habe.
Offen für Berufstätige – auch am Abend
Ein weiterer Irrtum betreffe die Zeit: Zwar sind alle aktuellen Teilnehmer pensioniert und treffen sich am Nachmittag. «Aber wenn jemand berufstätig ist, wären auch Treffen am Abend möglich. Das sollte kein Hindernis sein», betont Müller.
Für die Männer ist der Lesekreis mehr als eine gemeinsame Lektüre. Er bietet einen festen sozialen Rahmen und Raum für Themen, die im Alltag oft keinen Platz finden. «Literatur ist stark weiblich besetzt, das wollten wir bewusst ändern», sagt Bühler. In vielen Buchclubs dominieren Frauen – die Elgger Gruppe schafft einen Ort, in dem Männer ihre Sichtweisen einbringen können, ohne Konkurrenzdruck, mit Freude am Lesen.
Literatur als Spiegel des eigenen Lebens
Die persönliche Motivation wird ebenfalls deutlich. «Ich lese gern, um über den Alltag hinauszublicken», sagt Spahni. Bühler ergänzt: «Oft entdecke ich im Gespräch Dinge, die mir selbst nicht aufgefallen wären.» Die Bücher werden so zum Ausgangspunkt, um das eigene Leben zu reflektieren.
Das nächste Treffen findet im Januar statt. Bis dahin lesen die Männer «Das Café ohne Namen» von Robert Seethaler – ein weiterer Roman, der Fragen nach Identität und historischen Brüchen aufwirft. Der Austausch darüber wird wieder in einem gemütlichen Wohnzimmer stattfinden.
Ein kleiner Hafen im Alltag
Als das Treffen endet, wirken die Männer zufrieden. Sie haben diskutiert, nachgedacht und persönliche Eindrücke geteilt. «Man verpasst einiges, wenn man nicht liest», ist Kurt Müller überzeugt. Die Männerlesegruppe Elgg ist mehr als ein Lesekreis – sie ist ein Ort für Austausch und gemeinsames Denken, ein kleiner Hafen im Alltag, in dem Literatur lebendig wird.
SARAH STUTTE
Lesende Männer gesucht!
Die Elgger Männerleserunde trifft sich etwa sechsmal im Jahr in einem privaten Rahmen – jeweils nach gemeinsamer Absprache. Der nächste Treff findet am 14. Januar statt. Interessierte Männer sind herzlich eingeladen mitzumachen. Kontakt über: Kurt Müller, kurt.mue@vtxnet.ch
oder Ernst Bühler, ernst.buehler@ bluewin.ch

