Berufsauftrag für Lehrpersonen – nicht das Gelbe vom Ei
07.04.2022 ElggVor einigen Tagen hat die Zürcher Bildungsdirektion den Evaluationsbericht zum Berufsauftrag für die Volksschullehrpersonen publiziert. Dieser bestätigt, dass die hohe Überzeit der Lehrpersonen ein grundsätzliches Problem darstellt. Wie steht es in Elgg um die Problematik?
Der Zürcher Lehrerverband (ZLV), die Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich (Sekzh) und der Verband Kindergarten Zürich (VKZ) befürchten, dass sich dies über Jahre hinziehen wird. Sie fordern, die strukturellen Fehler des Berufsauftrags mit hoher Dringlichkeit zu korrigieren und so die Qualität der Volksschule langfristig zu sichern. Zentral sind insbesondere mehr zeitliche Ressourcen für die Lehrpersonen – gerade auch für die Klassenlehrkräfte. Dies wäre gleichzeitig ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen den immer gravierenderen Lehrpersonenmangel. Der Evaluationsbericht zeige die Schwächen des Berufsauftrags sehr deutlich auf. Der Berufsauftrag verfehle den angestrebten Schutz vor zeitlicher Überbelastung klar. Die eine zentrale Forderung betrifft einen höheren Lektionenfaktor (62 Stunden pro Lektion anstelle von 58), die zweite verlangt eine höhere Anrechnung der Funktion der Klassenlehrperson von 250 Stunden (bisher 100).
Überzeit und Überbelastung der Lehrpersonen
Vom Evaluationsbericht bestätigte Arbeitszeituntersuchungen belegen den strukturellen Initialfehler im Berufsauftrag. Hochgerechnet auf ein Jahr und ein Vollpensum fallen im Durchschnitt bei jeder Lehrperson rund acht Wochen unbezahlte Überzeit an (rund 340 Stunden Gratisarbeit). Als Reaktion auf diese Überbelastung reduzierten und reduzieren viele Lehrpersonen ihr Arbeitspensum. Der Forderung nach einem höheren Lektionenfaktor pflichtet der Schulleiter der Sekundarschule Elgg, Reto Scheuermeier bei. Er erklärt: «Ein Lehrer hat aktuell 58 Stunden für eine Lektion (39 Unterrichtsstunden à 45 Minuten) zur Verfügung. Das heisst, ein Lehrer hat pro Unterrichtsstunde 1.48 Stunden Zeit mit Vorbereitung und Nachbearbeitung. Damit wurden die Zeitressourcen für diese Kernaufgaben gekürzt.» Der Unterschied zu 62 Stunden würde hier schon etwas Entlastung bringen. Als Schulleiter ist er zuständig für die Zusammenstellung der Pensen. Für ein Vollpensum rechnet man mit 27,2 Lektionen pro Lehrperson, das ergibt die für den Unterricht reservierte Zeit (Unterricht, Vor- und Nachbereitung), dazu kommen noch Sitzungen, Austausch innerhalb des Lehrkörpers, Weiterbildung, für Klassenlehrpersonen der Funktion entsprechende Aufgaben sowie die Ausübung anderer Verpflichtungen innerhalb der Schule. Grundsätzlich wurde die sprichwörtliche Schraube angezogen, die Zitrone würde immer mehr ausgepresst unter dem momentanen Spardruck. Natürlich sei da und dort etwas Spielraum vorhanden, das hänge von der Schulleitung aber auch von der Schulpflege ab. Scheuermeier betont, dass ihm das Wichtigste die Gesundheit und das Wohlbefinden der Lehrpersonen sei. Nur so habe man einen funktionierenden und engagierten Lehrkörper – und das wiederum sei das Wichtigste für die Schülerinnen und Schüler. Die Schulpflege habe hier eine unterstützende Haltung, lobt er.
Belastung durch schulfremde Belange nimmt zu
Die Tendenz, dass viele lehrpersonen ihr Vollzeitpensum zugunsten einer Teilzeitanstellung aufgeben, ist durchaus vorhanden. Allerdings habe sie für die Schule auch Nachteile. So sind Lehrkräfte im Vollpensum immer vor Ort und können rasch angesprochen werden, alles ist übersichtlicher, persönliche Kontakte sind immer möglich. Demgegenüber bringen viele Teilzeitlehrer eher etwas Unruhe in den Schulalltag, so gibt es Klassen, die von neun oder gar 13 verschiedenen Lehrpersonen unterrichtet werden. Trotzdem, auch die Sekundarschule ist auf Teilzeitlehrpersonen angewiesen, sonst würde es nicht aufgehen und sie bieten auch die Möglichkeit, manchmal etwas zu «jonglieren».
Ein grösseres Problem ist die zunehmende Administration, wie sie auch in anderen Berufsbereichen zu finden ist. Alles muss rapportiert und festgehalten werden. Hier versucht Scheuermeier, die IT zu nutzen, um gewisse Prozesse effizienter oder automatisiert abwickeln zu können. Aktuell evaluiert man, wie das Absenzen-Wesen mit Hilfe einer Software vereinfacht organisiert werden kann. Viel Zeit müssen Lehrkräfte, allen voran der Schulleiter, für Probleme aller Art aufwenden – seien dies Sorgen mit Jugendlichen, mit den Eltern oder mit Behörden. Dieser Zeitbedarf sei stetig wachsend und führe auch zu Überlastung, auch in emotionaler Hinsicht.
Kampf gegen Lehrpersonenmangel
Bereits jetzt hat es für die Zürcher Schulen viel zu wenige Lehrpersonen. Stand heute sind auf der offiziellen Stellenbörse für Lehrpersonen des Kantons Zürich rund 800 Stelleninserate für Dauerstellen und rund 200 Inserate für Stellvertretungen publiziert – so viele wie noch nie zuvor. In den nächsten Jahren wird sich der Lehrpersonenmangel weiter verschärfen, weil die Generation der Baby-Boomer das Pensionsalter erreicht. Gleichzeitig prognostizieren die Statistiken für den Kanton in den kommenden Jahren bis 2030 Rekorde bei den Schülerzahlen. So zumindest warnen die drei Lehrerverbände. Für das kommende Schuljahr sucht die Sekundarschule Elgg Lehrpersonen für etwas mehr als 100 Prozent. Reto Scheuermeier ist gespannt darauf, wie viele gute Bewerbungen eingehen werden. Bis heute hatte er an seiner Schule keine Probleme, gut qualifiziertes Lehrpersonal zu finden. Er profitiere von einer geringen Fluktuation, was für die Schule spreche. Wie sich die Situation entwickelt, kann er natürlich nicht beurteilen – das werde man sehen. Ihm fällt aber der «hohe Frauenanteil unter den Lehrpersonen der Oberstufe auf, das war vor 15 Jahren noch anders, damals waren wir ein Männerteam», wie er erzählt. Warum das so ist, kann er nicht erklären, findet es aber bemerkenswert. Warum sich mehr Frauen für die Zusammenarbeit mit Jugendlichen entscheiden und die Schwierigkeiten weniger scheuen, weiss er auch nicht. Eine ausgewogene Mischung der Geschlechter im Lehrerteam ist seiner Meinung nach erstrebenswert.
Die Situation aus Behördensicht
Die Problematik des neuen Berufsauftrags für Lehrpersonen hat wie alles mindestens zwei Seiten. Stellvertretend für die Behördenseite nimmt Monika Brühwiler, Präsidentin der Primarschulpflege Stellung zu den fraglichen Punkten. Sie sagt, dass gemäss einer Befragung der Lehrpersonen über alle Stufen hinweg, diese dem neuen Auftrag um einiges kritischer gegenüberstehen, als die verschiedenen Behörden, die dem neuen Berufsauftrag eher positiv begegnen. Schwierigkeiten ortet Brühwiler allerdings im neuen Lehrplan, der die Individualisierung des einzelnen Jugendlichen fördert. Diese Tendenz könne zu einer Verzettelung des Lehrstoffs führen, weil Themen viel breiter aber dadurch weniger tief behandelt werden könnten. Eine gesellschaftliche Entwicklung; so würden auch die Eltern immer mehr von der Schule fordern. Wurde früher von der Lehrperson Druck oder gar Gewalt auf die Schüler ausgeübt, sei heute eher das Gegenteil der Fall, was auch absolut richtig sei. «Wenn aber das einzelne Individuum zu sehr im Zentrum steht, fördert dies den Egoismus. Von den Eltern manchmal sogar bewusst gefordert, auch hinsichtlich des Erziehungsstils was im Endeffekt bedeute, dass in einer Klasse mit 20 Kindern ebenso viele Erziehungsstile gewünscht würden – ein Ding der Unmöglichkeit.» Aussagen der Präsidentin, die nachdenklich stimmen.
Zu alledem hinzu kommen neue Herausforderungen in Form der geflüchteten Kinder aus der Ukraine, die integriert werden müssen, kaum hat sich die Coronalage normalisiert. Sie kann sich auch vorstellen, dass «viele Lehrpersonen einfach etwas reformmüde sind – seit gefühlten 15 der letzten 20 Jahre wird immer irgendetwas reformiert. Nach jeder Reform muss sich die Lehrerschaft neu einstellen.» Als Präsidentin der Schulpflege sei sie sozusagen auf Arbeitgeberseite, sie erhalte ihren Auftrag als Behörde vom Kanton und müsse diesen ausführen. Die Primarschulpflegepräsidentin stellt nicht unbedingt den Lektionenfaktor ins Zentrum der Diskussion um Überforderung, sondern mehrheitlich die hier aufgeführten Aspekte. Spezifisch in Elgg würden keine Probleme bestehen, neue Lehrkräfte zu verpflichten, so würden sich immer genügend gut qualifizierte Personen melden. Allerdings würden sich, ebenso wie an der Sekundarschule, auch an der Primarschule viel weniger männliche Lehrkräfte bewerben was dazu führe, dass die Kinder und Jugendlichen fast ausschliesslich von Lehrerinnen unterrichtet würden. Welche Auswirkungen dieser Umstand längerfristig auf das Geschlechterbild der Jugendlichen, insbesondere der jungen Männer habe, werde sich irgendwann zeigen.
«Es bestätigt sich, dass die Herausforderung der Erziehung und der Pädagogik, das Vermitteln der Lehrmittel, ein Knochenjob ist – unabhängig ob für einen Lehrer oder eine Lehrerin» sagt Brühwiler mit Nachdruck. Schon nur die Aufgabe, einem Erstklässler zu vermitteln, dass er jetzt in der Schule sei; aufmerksam zu sein habe und lernen solle – allein das sei schon eine Herkulesaufgabe bei einigen. Zudem würden Kinder bereits mit vier Jahren in den «kleinen» Kindergarten eintreten, zum Teil sogar mit Windeln. Durch diese Verschiebung werde der Lehrerberuf insgesamt zusätzlich anstrengender. Ein weiterer Fakt, der zur Überforderung der Lehrerschaft beiträgt ist die Erwartungshaltung, ständig erreichbar zu sein. So müssen E-Mails beantwortet werden, Fragen und Anliegen aus dem Whatsapp Eltern-Chat und dem Klassen-Chat müssen umgehend kommentiert werden – am besten rund um die Uhr an 365 Tagen. Sich da abzugrenzen will gelernt sein, schliesslich werden über die digitalen Kanäle nicht nur Nettigkeiten ausgetauscht.
MARIANNE BURGENER