Als Ulrich Bräker letztmals durch unsere Gegend humpelte
16.09.2023 RegionDer aus preussischen Diensten Geflohene und zuhause im Garnhandel verschuldete Ulrich Bräker († 11.9.1798) ist materiell erfolglos geblieben. Aber der «Arme Mann im Toggenburg» hat glücklicherweise während 30 Jahren bis zu seinem Tod Tagebücher geführt. ...
Der aus preussischen Diensten Geflohene und zuhause im Garnhandel verschuldete Ulrich Bräker († 11.9.1798) ist materiell erfolglos geblieben. Aber der «Arme Mann im Toggenburg» hat glücklicherweise während 30 Jahren bis zu seinem Tod Tagebücher geführt. Auch seine Erlebnisse zu Fuss durch die ihm bislang unbekannte Deutschschweiz, auf den Wegen von Chur bis Schaffhausen, vom Bodensee bis in die Innerschweiz und nach Bern, hat er reflektiert und aufgeschrieben. Im letzten Lebensjahr humpelt Bräker von St. Gallen nach Zürich retour durch unsere Gegend und im Hinterthurgau.
Die Welt von unten
Der «arme Mann im Toggenburg» wandert einsam und in zufälliger Begleitung – auch ein Hündchen mag ihm vorauslaufen – durch eine noch gänzlich vorindustrielle Landschaft und Gesellschaft. Ausserdem dringen die Franzosen ins Land und stellen das Bisherige infrage. Wichtig werden dem Wandernden die vielen überraschenden Begegnungen unterwegs und in den Stationen. Der konkursite Kleingewerbler ist froh darüber, immer wieder seinem geplagten, an den Wohn- und Arbeitsort gefesselten Dasein entfliehen zu können. Er geht, begegnet, reflektiert, schreibt und vermittelt eine «Welt von unten». Die heute Lesenden vermögen sich an der Schilderung verschwundener Lebensweisen im 18. Jahrhundert vergnügen, die sonst in schriftlichen Quellen spärlich anzutreffen oder gar verstummt sind.
Ulrich Bräker ist auf seiner letzten Fussreise 63 Jahre alt und äusserst nachdenklich geworden. Das Alter und die Armut haben ihn eingeholt. Kurz vor seinem Tod muss er sich bankrott erklären. Ihn belastet ausserdem ein gravierendes gesundheitliches Problem. Er vermag nicht mehr normal zu gehen. Er muss hinken. Wie soll er sich weiterhin im Land fortbewegen? Es gibt zwar, weit verstreut im Land, Chaisen und Reitpferde für die Privilegierten, aber keinen öffentlichen Verkehr für alle. Bräker muss seinen Zustand ertragen und hoffen. Er meint, um dieses oder jenes «Mitteli» in der Not zu wissen. Er redet sich die Erfahrung anderer Gehbehinderter ein: «… so alt und krafftlos, macht nichts, ist noch kein bewiss, das mein ende so gar nahe sey, habe doch viele männer gekanndt, und kene noch solche, die 10 bis 20 jahre umher gehinkt und wie schneken, von einem ort zum andern gekrochen u. doch ein hohes und gesundes alter erreicht haben, i nu, wenns kommt so komts – komts nicht, so bin ich auf alles gefast.»
Von St. Gallen nach Zürich
Nochmals, letztmals macht er sich im Frühling 1798 auf die lange Wanderung nach Zürich, mit geschwollenen Knien. Von St. Gallen möchte er über Gossau in einer einzigen Etappe den zürcherischen Flecken Elgg erreichen. An drei Zwischenstationen will er sich erholen: in Münchwilen, Elgg und Winterthur, wo er im Haus zum Adler den Arzt Heinrich Sulzer (1735-1814) zu konsultieren hofft, jedoch wegen Abwesenheit verpassen wird. Aber Bräkers Beine streiken und erlauben ihm am ersten Wandertag, nach sechs Stunden, nur eine verkürzte Distanz. Er erreicht mit Not Münchwilen. Der Gasthof Engel gilt als gute, aber unerwähnte Adresse, wo sich aber der Wirt am Ort «gut aufs zech machen versteht». Während Ulrich Bräker im April als Einzelgänger nach Westen zieht, stossen bald Scharen französischer Soldaten ostwärts und logieren ebenfalls im Münchwiler Engel. Sie werden dem Wirt bald zur Last. Der sucht bei der thurgauischen Verwaltungskammer in Frauenfeld Unterstützung: «Bürger Presidentt! Gestern sowohl die avangardie (Vorhut), als aber auch die attalarie (Artillerie) und Infanterie der französischen Trupen hierdurch marschiert, welche sich vernehmen liessen, dass heute und weiter hinaus noch einiche 1000 hier durchkommen werden: ein Corps der avantgardie zechten auf ihren Pferdten an Weyn, Bier etc. ... ein ander Corps der atalerie, 18 Mann, futterten sich und ihre Pferdt, und abends späth von der Infanterie nahmen auch etliche einen guthen Abendtrunk ... Erwarten will ich doch hoffentlich, dass ich um das gestern Vorgegangene und wann ich mich witers zu einer solchen Wirtschaft verstehen müsste, entschädigt werde... mit Gruss und fründschaft ... Münchweillen, den 7. May 1798 – Joh. Andres z. Engel.»
Nach der Rast in Münchwilen geht Bräker weiter westwärts. Das Städtchen Elgg liegt an der Route, dann strebt er nach Winterthur. «… wollte bey einem h.doct. Sultzer zusprechen, verfehlte aber denselben – zu meynem schaden – muste mich anderwegs einquartieren – und auf meinen schwachen beinen nach Zürich hinken – ich gieng noch bis Wasserstorff (Bassersdorf) ganz abgemattet strekte mich der länge nachhin – und pflegte meine beine so gut ich konnte».
Heimwärts über Schottikon
Bräker erreicht sein Reiseziel mit grösster Mühe. Nachdem er Zürich ausgiebig erkundet hatte, nimmt er wehmutsvoll Abschied und lobt die schöne Limmatstadt «mit den herzensguten Menschen und vielen edlen Bürgern». Gemächlich hinkt er zurück über Bassersdorf nach Winterthur, wo ihm Dr. Sulzer das ersehnte Pflaster auf seine geschwollenen Knie legt. Durch einen Kaffee gestärkt, Bräkers bevorzugtes und von ihm mehrmals empfohlene Aufputschmittel, geht er im Eulachtal durch hoffnungsvolle Saatfelder und eine fruchtbare Gegend, bis sich ein ebenfalls hinkender Wandergefährte zu ihm gesellt, ihn stört und verstört: «… lieff ich, so lieff er auch – stunde still, so stund er auch still – endlich zu Schottiken wollte er übernachten, seye vil wohlfeiler zu leben als in Ellg und ich – so müde ich war – wollte weiter gehen, um nur seiner loos zu werden, aber kaum 100 schritte so fühlte hefftige krämpfe in meinen füssen, dass ich mir nicht weiter getraute u. wieder in das nehmliche wirthshaus zurükkehrte; zum glük hate es da auch gäste, die sich mit jm einliesen was die Bewirthung betrifft, so hate er recht – nicht so gar apentitlich, aber wohlfeiler hab ichs nirgend angetroffen.»
Erholung beim Elgger Pfarrer
Anderntags besucht Bräker im einstündig entfernten Flecken Elgg den Jahrmarkt und hofft, einige Landsleute aus dem Toggenburg anzutreffen. Er findet nur einen einzigen Toggenburger, der ihm erwünschte Neuigkeiten verrät. «Den 25. (April) auf Elgg (der Jahrmarkt war schlecht frequentiert) suchte vergebens Toggenburger auf, die sonst diesen viehmarkt auch besuchen – einen einzigen, der mir so eint und anders von meiner Heimath erzehlte.»
Nach den Gastroqualifikationen seines lästigen Wanderkollegen tags zuvor, sucht Bräcker in Elgg kein Gasthaus auf. Er klopft ans Pfarrhaus: «Wurde bey h.pfr. Kramer gütig bewirthet – und ein paar stunden mit angenehmeren gesprächen unterhalten als von ienem Greiffensee.»
Johann Heinrich Kramer (1739-1809) war aus der Bodenseegemeinde Kesswil als 41-Jähriger nach Elgg gekommen. Die Gemeinde zählt 2128 Personen. Auch noch 15 Jahre später erhält er in den Visitationsberichten sowohl für seine Amtsführung als auch persönlichfamiliär ausgezeichnete Qualifikationen. Grösste Aufmerksamkeit schenkte er dem Schulwesen. Auf seine Veranlassung hin wurde das Schulhaus an der Kirche 1806 renoviert. Jährlich führt er seine Religionsschüler durch die «Zeugnisbüchlein» (Glaubensbekenntnisse). Es gibt 16 Klassen mit 404 «Catechumenen». Kramer ist auch ein fleissiger Seelsorger: Alle Hausbesuche hat er seit der letzten Visitation gemacht – bei Gesunden und Kranken (mit «brästen und unbrästen»), besonders auf die Festzeiten besucht er die «Invaliden». Auch die Fürsorge gehört zu seinen Pflichten: Aus dem Amt Töss werden an die Armen unter anderem 38 «brödlj» verteilt. Zuwendungen kommen auch aus dem Kirchen-Spendgut und dem Säckligut. Der monatliche Stillstand wird «fleissig gehalten». Leider erfüllen die Stillständer ihre Pflichten wenig. Aber die Kirchen- und Stillstandsprotokolle, Tauf-, Ehen- und ToTenmatrikel und weitere Verzeichnisse, «das alles ist in vortrefflicher Ordnung».
Der weltgeschichtliche Umbruch in Paris, die Französische Revolution, hatte in der Bevölkerung geteilte Auffassungen gefunden. Der Einmarsch der Franzosen 1798 brachte in der Schweiz den Zusammenbruch der alten Ordnung, aber auch Kriegselend und teilweise Chaos. Am 6. Mai waren die ersten französischen Husaren in Elgg eingerückt. Die Phase der Französischen Revolution und des Einmarsches der Franzosen dürfte für einen Ortspfarrer zu einer der schwierigsten Zeiten gehört haben.
Pfarrer Kramer hatte mit den neuen Verhältnissen grosse Mühe bekundet. Er stand noch in der vorrevolutionären Zeit und soll deshalb in der Gemeinde auch immer wieder angestossen sein. Man warf ihm ausserdem vor, «ein herrisches Wesen und eine rücksichtslose Zunge zu haben» und bei Streitigkeiten auch den Prozessweg nicht zu scheuen. Sein schon bisher bescheidener Lohn wurde weiter verringert. Andererseits blieb er als gewandter Kanzelredner geschätzt. Er fühlte sich für seine Gemeinde als Hirte mitverantwortlich, achtete auf alle und nahm sich aller an. Mit zunehmendem Alter plagten ihn mancherlei gesundheitliche Beschwerden. Vor allem schwand seine Sehkraft.
«... an einem der angenehmsten aussichten ergözt»
Die Frage nach dem schönsten Aussichtspunkt im Hinterthurgau mag mit dem Nollen oder Hörnli beantwortet werden. Ulrich Bräker sieht den schönsten Ort in der Region anderswo. Der gehbehinderte Senior schreibt über den beschwerlichen Heimweg durch den Hinterthurgau in sein Tagebuch: «… nun gings noch bis Weyl (Wil), wo ich mich über die höhe – zwüschen Ellg und Münchweilen – an einem der angenehmsten aussichten ergözte.»
Bei dieser, vom hinkenden Wanderer zitierten Höhe, dürfte es sich um den Tuttwilerberg handeln. Obertuttwil war nicht nur am uralten Weg auf der Ost-West-Achse gelegen, sondern auch an einer alternativlosen, vielbegangenen, berittenen und befahrenen Reise- und Transportroute. Hier war an der alten Landstrasse von Zürich nach St. Gallen, für den schweren Gütertransport mit Pferden, eine Wechselstation entstanden. Die bedeutende Route über den Tuttwilerberg blieb bis nach der Mitte des 19. Jahrhunderts und ermöglichte, das versumpfte Gebiet zwischen Eschlikon und Tänikon, Aadorf, zu meiden. Die notwendigen Vorspanndienste und Gasthöfe brachten den Einheimischen dringlich erwünschte Einnahmen. Die Verkehrswege im Thurgau, vor allem im Hinterthurgau, scheinen bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr schlecht gewesen zu sein. Das beweist ein belegtes Vorkommnis, wonach sich die Kaufmannschaft in St. Gallen beim Landvogt in Frauenfeld darüber beklagt hätte, dass ihr Bote Georg Scheitlin nachts um 11 Uhr auf dem Weg von Zürich nach St. Gallen auf Thurgauer Boden «mit seinem Pferde dergestalt einsank, dass er wohl zwei Stunden brauchte, um das Tier mit Beihilfe der Bauern mit äusserster Mühe und unter grösster Gefahr aus dem Moraste zu ziehen».
Nach qualvollem Heimweg herzlich empfangen
Für Bräker wird der lange Heimweg durch den Hinterthurgau und das Fürstenland je länger, je brutaler. Er hatte ihn unterschätzt und die Strecke zog sich von Wil bis Büren in eine kaum zu ertragende Länge; und nochmals eine Stunde bis Gossau. «... dachte es wäre ein spass – so bey gutem wetter und trockenen strassen – den weg nach St. Gallen zu machen. Ein plessierlicher spatziergang, aber ich betrog mich, mag den weg wohl etwa ein paarmahl in meinem leben, aber mit gesünderen füssen gemessen haben, aber auch die länge vergessen haben, die fusssollen mögen einen Türken der 50 streiche drauf empfangen kaum ärger geschmerzt haben als mich in den ersten stunden schon in Büren nahme, nur um eine stunde zu ruhen, ein glässgen brandtwein und fieng an meinem fortkomen zu zweifeln, fragte schon einem miethpferdte nach – man brauche die pferdte sonst hiess es.»
Endlich erreicht der Geprüfte den Ausgangspunkt seiner Wanderung wohlbehalten und wird von seinen Angehörigen herzlich empfangen – nur nicht von seiner Frau! Sie hat wenig Verständnis für seine Schriftstellerei. Das eheliche Verhältnis ist belastet. Bräker vergleicht seine Frau mehrmals schriftlich mit Xanthippe, der garstigen Frau des griechischen Philosophen Sokrates. Nun aber hat der Zurückgekehrte Zeit, über alle zukünftigen Aktivitäten nachzudenken. «... fest entschlossen mich auf meinem alten posten von neuem zu bequemen und einzuschränken, aller verdriesslichkeiten und bittern vorwürffen nicht sonderlich zu achten, ist doch im alten nest immer am besten ... Nun meine absicht ist erreicht, alles bequemt sich wieder besser, meine familie, meine creditoren etc. Auch meine gelust ist gestillt. So sehr das reissn mein lieblingsfach ist, so kann ich doch auch sat werden und mich wieder hertzgerne in die einsamkeit fügen, weiss aber wohl die lust zum reissen komt immer wieder, so lange mich meine beine tragen, werde ich es nicht gantz lassen.»
MARKUS SCHÄR