Alle haben ihn in der Hand – den Wendepunkt
11.05.2024 AadorfKilian Ziegler präsentierte sein Stück «99°C» im Kleinkunstsaal. Organisiert wurde der Anlass vom Gong, dem Kleinkunstveranstalter für Aadorf und Umgebung, welcher dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert. Der Saal war so gut gefüllt, dass ...
Kilian Ziegler präsentierte sein Stück «99°C» im Kleinkunstsaal. Organisiert wurde der Anlass vom Gong, dem Kleinkunstveranstalter für Aadorf und Umgebung, welcher dieses Jahr sein 50-jähriges Jubiläum feiert. Der Saal war so gut gefüllt, dass in letzter Minute noch weitere Stühle bereitgestellt werden mussten.
Mit «Wortspielen am Siedepunkt» wurde Kilian Ziegler von den Veranstaltern angekündigt. «99°C» sei ein Programm aus Slam-Poetry und Comedy. Ob in den grossen oder kleinen Momenten des Lebens, oft brauche es nur einen Satz, eine Tat, oder nur ein einziges Grad, dass die Lage kippe. Aber vielleicht stehe die brodelnde Welt gar nicht am Siede-, sondern am Wendepunkt?
Eine Leinwand, eine Powerpoint-Präsentation, ein Tisch, ein Tagebuch und ein Wasserkocher dienten Kilian Ziegler als Requisiten. Die Hauptakteure dieses Abends waren seine Worte und die Präsenz. Von Anfang an lässt er Persönliches durchschimmern, was sich als Faden durch den ganzen Abend zieht. Was heisst alt? Ziegler definiert: «Alt sein heisst, nicht nur SRF zu schauen, sondern es auch gut zu finden.» Ja, manchmal habe er das Gefühl, dass die Welt nächstens überkocht, wir uns vor dem Punkt «of no return» befinden. Als Kind sei er ein grosser Träumer gewesen und habe gedacht, die ganze Welt stehe ihm offen, heute entscheide er sich zwischen Ravioli aus der Migros oder dem Coop. Ziegler bekennt sich zu einem selektiven Mutisten, der in der Kindheit so oft von seinen Eltern bestochen wurde, dass er sich wirklich gefragt habe, ob diese nicht bei der Fifa arbeiten. Was wäre gewesen, wäre er im Leben anders abgebogen?
Ernste Themen spielerisch verpackt
«Wissen sie, wie genial die Übergangsjacke ist?», fragt Ziegler das Publikum. Die Übergangsjacke, die im Frühling oder Herbst getragen wird, wenn es nicht mehr richtig kalt, aber auch nicht richtig heiss sei. Er zieht Parallelen. Was wäre, wenn es statt Missverständnisse Kompromissverständnisse gäbe? Allerdings, so meint Ziegler, wäre in der heutigen Zeit vielleicht eher eine Untergangs- statt Übergangsjacke angebracht und entwirft den Slogan gleich selbst: «Untergangsjacke – noch nie war Aussterben komfortabler.»
Das Publikum erfährt, dass es der Interpret liebt, in Olten am Bahnhof zu sitzen und den Zügen zuzuschauen. Die Güterzüge, die vorbeirattern und in denen man sich allerlei vorstellen könne. Kaum sind sie da, sind sie schon wieder vorbei. Darum, sinniert Ziegler, seien sie wohl auch mit Waren und nicht mit Sein gefüllt. Ja, was wäre, wenn es Züge gäbe, die unseren Ballast mitnehmen würden? Was wäre, wenn wir unsere Sorgen, Zukunftsängste verpacken und diese verfrachten könnten?
Wenn es Züge gäbe, die weit, weit fahren und Frachtschiffe, die noch weiter ziehen? Wenn die Sorgen so weit weg wären, dass die Menschen leicht und unbeschwert würden?
Kleine Weltmomente
Während ein CEO einer Bank einen siebenstelligen Boni bezieht und denkt, es könnte mehr sein, liest ein Passant, geplagt vom schlechten Gewissen, ein Zweifrankenstück vom Boden auf. Während viele in Krisengebieten froh wären, es würde gerade nichts passieren, wünschen sich andere Momente voller Dramen. Während Grosskonzerne frei schalten und walten, sind wir angehalten, Wasser zu sparen. Ja, der Klimaschutz soll populär werden. Erschaffen wir eine Welt für alle und nicht nur für die «Herren Globus». Es ist Mai 2024. Ziegler sagt: «Ich habe von einem Leben auf 99 Grad geträumt, aber will ich das wirklich?» Vielleicht werden uns unsere Kinder fragen, wieso wir nicht reagierten, als die Welt noch nicht am Siede-, aber am Wendepunkt war. Seine Grossmutter mahnte ihn immer: «Male nie ein Tier an!» Ja, niemand soll «Reh-Signieren», denn wir alle haben ihn in der Hand – den Wendepunkt.
ANJA C. WOLFER BAKA