VOM ELGGER GESCHICHTENPFAD ZUM THEMA «ERINNERN UND VERGESSEN»
23.10.2025 ElggDas Pferd aus dem Kreisel in Elgg
VON KI
Es stand schon seit Jahren da. Mitten im Kreisel von Elgg, Tag für Tag, bei Sonne, Regen, Schnee. Das Metallpferd, einst stolz aufgerichtet, war ein Wahrzeichen geworden. Doch niemand fragte es je, wie es ihm ...
Das Pferd aus dem Kreisel in Elgg
VON KI
Es stand schon seit Jahren da. Mitten im Kreisel von Elgg, Tag für Tag, bei Sonne, Regen, Schnee. Das Metallpferd, einst stolz aufgerichtet, war ein Wahrzeichen geworden. Doch niemand fragte es je, wie es ihm ging.
Immer auf zwei Beinen zu stehen – das war auf Dauer zu viel. Die Gelenke quietschten. Der Wind blies ihm unaufhörlich durch die Rippen, und von unten stiegen die Abgase der Autos in seine Nüstern. Von Stille keine Spur. Nur Motoren, Hupen, Bremsen.
Eines Tages dachte das Pferd: «Ich hab genug. Ich will raus hier.»
Der Entschluss war gefasst. In einer stürmischen Nacht stemmte es sich vom Sockel. Es ruckelte, knirschte und knarzte – dann stand es auf eigenen Hufen. Ganz schön wacklig.
Am nächsten Morgen trabte es los, etwas rostig, aber entschlossen. Doch schon an der nächsten Kreuzung passierte es: Ein Lieferwagen bremste zu spät. KLONG! Das Pferd lag auf der Seite.
Zum Glück war nichts gebrochen. Nur ein verbogener Huf und ein loses Ohr. Eine Passantin rief sofort bei der Werkstatt Schnyder an. «Da steht ein … äh … Pferd auf der Strasse. Es braucht wohl Hilfe.»
Schnyder grinste, als er es sah. «Na, na, wer will denn da ausbüxen?» Er schraubte, hämmerte, richtete das Pferd wieder her. «Aber sag mal – wohin willst du eigentlich?» «Auf eine Wiese», antwortete das Pferd. «Eine Bio-Wiese. Mit anderen Pferden. Frische Luft, kein Lärm.» Schnyder nickte. «Versteh ich. Gute Idee.» Ein paar Tage später war das Pferd wieder unterwegs. Dieses Mal vorsichtiger. Schnyder hatte ihm eine grobe Karte gemalt. «Da hinten beim Waldrand, dort soll’s eine Bio-Weide geben.» Das Pferd trottete los. Die Landschaft wurde grüner, die Luft frischer. Und dann sah es sie: Eine grosse, saftige Wiese, leicht hügelig, mit einem kleinen Bach und viel Platz zum Galoppieren. Es galoppierte los, voller Freude. Doch dann – Muh! – blieb es abrupt stehen. Überall Kühe. «Ähm … hallo?» fragte das Pferd zögerlich. Eine dicke Kuh kam näher. «Grüss dich. Neu hier?» «Ich … dachte, das sei eine Pferdeweide.» «Nö. Nur wir Kühe. Schon lange. Pferde sieht man hier selten.» Das Pferd seufzte. Schon wieder nicht angekommen.
Die Kühe waren freundlich, aber das Pferd fühlte sich fremd. Sie kauten langsam, standen viel herum, diskutierten über Grasqualitäten. Es sehnte sich nach einem Trabrennen, nach einem Wiehern zur Begrüssung.
Es versuchte, sich anzupassen. Kaute auch mal auf einem Grasbüschel herum. Aber es schmeckte nach … Kuh.
Am dritten Tag sagte das Pferd: «Ich muss weiter. Ich suche einen Ort, wo Pferde sind. Oder zumindest ein Ort, wo ich einfach sein kann.»“
Die Kühe nickten verständnisvoll. «Gute Reise, Pferd. Vielleicht findest du deinen Platz.» Seitdem ist das Pferd wieder unterwegs. Es wandert durch Dörfer, über Felder, an Seen vorbei. Mal sieht man es in einem Schrebergarten, mal auf einem alten Bahnwagen. Kinder winken ihm, Erwachsene schütteln die Köpfe.
«Das ist doch das Pferd aus dem Kreisel!» «Was macht das hier?»
Das Pferd hört die Stimmen, aber es lässt sich nicht beirren. Es weiss: Irgendwo da draussen gibt es einen Ort, wo es atmen, galoppieren und einfach Pferd sein kann – nicht aus Metall, sondern aus Sehnsucht. Und wer weiss – vielleicht steht es morgen schon bei dir im Garten.
«Erinnern und Vergessen» auf dem Geschichtenpfad
Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum 11. Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt richtig gezählt hat und stutzig wird – bei der letzten Geschichte überraschte die Urheberschaft. Bereits erschienen ist: «Gegen das Vergessen» von Margrit Wipf (09.10.2025), «Dumpfe Schläge», von Felix Schröter (11.10.2025), «Lieber spät als gar nicht», von Susie Scherrer (14.10.2025), «Wo ist der Vater», von Ruedi Elsenbruch (16.10.25).

