VOM ELGGER GESCHICHTENPFAD ZUM THEMA «ERINNERN UND VERGESSEN»
16.10.2025 Elgg«Erinnern und Vergessen» auf dem Geschichtenpfad
Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer ...
«Erinnern und Vergessen» auf dem Geschichtenpfad
Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt richtig gezählt hat und stutzig wird – bei der letzten Geschichte überraschte die Urheberschaft.
Bereits erschienen ist: «Gegen das Vergessen» von Margrit Wipf (09.10.2025), «Dumpfe Schläge» von Felix Schröter (11.10.2025), «Lieber spät als gar nicht» von Susie Scherrer (14.10.2025).
Wo ist der Vater – Erinnerungen und Erkennen
VON RUEDI ELSENBRUCH
Hans Joachim erreichte die Nachricht in wenigen Worten – als Telegramm. Er war beim Militär – dort brachte man ihm in einer Fahrschule bei, wie man einen Jeep und wie man einen Lastwagen fährt.
In wenigen Tagen sollte er die Wiederholungsprüfung machen und den Fahrausweis erhalten – bei der ersten Prüfung war die gesamte Prüfgruppe durchgefallen. Alle Prüflinge hatten auf einem Lastwagen mit Synchron-Schaltung gelernt, und die Prüfung erfolgte auf einem Lastwagen ohne synchronisierte Schaltung. Das bedeutete, dass man beim Herunterschalten Zwischengas geben musste – sonst krachte es. «Laut und deutlich schalten», war die launige Bemerkung des Prüfers. Aber niemand – ausser ihm – konnte darüber lachen.
Und doch hatte es positive Folgen: Eine sechswöchige Nachschulung wurde angeordnet, und das bedeutete, dass er jeden Tag mit dem Fahrlehrer durch die Landschaft fuhr – die Eifel-Gegend war zwar karg, aber unter diesen Umständen lernte man auch einige Gaststätten kennen.
Er erhielt ein Telegramm – man schrieb das Jahr 1961, und er war kurz vor der Verabschiedung aus dem Militärdienst. Ja, er war freiwillig bei der Bundeswehr, und die zwei Jahre waren bald zu Ende – die Eltern hatte er in dieser Zeit nur selten gesehen. Sein Vater war immer stolz, wenn der Sohn in Uniform nach Hause kam – er selbst hatte schliesslich 16 Jahre das «Ehrenkleid der Nation» getragen – sechs Jahre im Ersten und vier Jahre im Zweiten Weltkrieg. Dazu noch sechs Jahre Kriegsgefangenschaft mit Arbeit im Bergwerk – das hatte ihn geprägt. Gleichwohl war er ein fröhlicher Mensch, der für einen Spass immer zu haben war. Leben war für ihn immer auch Über-Leben gewesen.
Telegramme mussten damals je Wort bezahlt werden, und so kam die Nachricht von der Mutter in gebotener Kürze:
«Vater gestorben – Beerdigung Dienstag»
Vier Worte – der Vater, den er nie «Papa» genannt hatte, war tot!
Am Beerdigungstag kam die Frage: «Möchtest du den Vater noch mal sehen?»
Ja – Hans Joachim wollte ihn sehen – er hatte ihn ja eigentlich erst mit 10 Jahren richtig kennengelernt. Hatte er ihn geliebt? Er hatte nie mit ihm gespielt oder Geschichten vorgelesen – er war der Vater, von dem hin und wieder Briefe aus Polen kamen.
Hatte er ihn geliebt? Ja – aber eher wie einen lieben Onkel.
Man hatte schliesslich nach dem späten Kennenlernen zehn Jahre in der Familie zusammengelebt – dann war er bereits gestorben.
Kurz vor der Beerdigung sagte man ihm, dass der Vater in einer kleinen Halle aufgebahrt läge, aber aufpassen – es läge noch ein zweiter Toter dort.
Ja, und … was sollte die Bemerkung?
Er betrat die Aufbahrungshalle, ging direkt vorne am ersten Sarg vorbei – denn darin lag ein vertrocknet, ärmlich aussehender alter Mann – gar nicht gut anzusehen …
Also ging er weiter bis ans Ende der Halle zum zweiten Toten.
Da standen ihm die Haare zu Berge – ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Das konnte doch nicht wahr sein – dort lag eine tote Frau!
Also war der erste Tote sein Vater!! Er hatte ihn nicht erkannt!!!
Und er weinte … und er schämte sich.
10 Jahre früher
Hans Joachim war 10 Jahre alt, die Familie hatte den Krieg und die Nachkriegszeit in einem kleinen Bauerdorf von 700 Seelen verbracht. Der Vater war nicht dabei – er war zum Kriegsende in Gefangenschaft geraten und musste in Polen im Untertagebau arbeiten. Millionen Menschen waren gestorben – und die Gefangenen mussten arbeiten, um so etwas wiedergutzumachen.
Hans Joachim war 1 Jahr alt, als der Vater – damals 41 Jahre alt – in den Kriegsdienst musste. Danach hatte er ihn einmal bei einem Fronturlaub gesehen – ein ihm «fremder» Mann, der in SEINEM Bett und auch noch neben der Mutter schlief! Nach 14 Tagen ging er wieder an die Front.
Es sollte für sechs Jahre das letzte Mal sein, dass er ihn sah – dann kamen gelegentlich Briefe aus der Gefangenschaft, wo der Vater immer nach seinem kleinen Prinzen fragte und versicherte, er käme bald heim. Und er würde ihm auch etwas Schönes mitbringen – so schrieb er es immer wieder.
Die Jahre vergingen – Hans Joachim war inzwischen 10 Jahre alt – und nun war es so weit! Die Mutter und er erwarteten den Heimkehrerzug auf dem Bahnhof der kleinen Nachbarstadt. Die Entlassenen stiegen aus – erbärmlich aussehend, gebeugt und in schäbiger Kleidung – kraftlos ...
Der Vater war nicht dabei?! Wo war dieser Mann, den er nur noch vom Foto her kannte – der Offizier in schneidiger Uniform? Er sah ihn nicht unter den anderen Männern.
Da bemerkte er, wie die Mutter auf einen dieser Männer zulief und ihn umarmte und weinte und weinte. Und vor Glück keine Worte fand, ausser: «Fritz, Fritz, Fritz – bist du endlich da» ...
DAS war also der Vater – SEIN Vater? Er hatte keine Ähnlichkeit mit dem stolzen Mann in Offiziersuniform und Stiefeln auf dem Foto.
Zögernd begrüsste er ihn und dann war grosse Freude – der Vater hatte ihm tatsächlich etwas mitgebracht, was er lange versteckt halten musste! Bei der Arbeit im Bergwerk hatte er einen «Diamanten» gefunden.
Der «Diamant» war in Wirklichkeit ein kleiner Bergkristall – aber für Hans Joachim war es das schönste Geschenk. Der Vater hatte gesagt, er bringt ihm etwas mit, UND er hatte Wort gehalten! Hans Joachim war glücklich.
Hans Joachim hatte zunächst wenig Gelegenheit, den Vater näher kennenzulernen. Der Vater ging bald zurück nach Düsseldorf, um für die Familie eine Wohnung zu suchen – vieles in den Städten Deutschlands lag in Trümmern – die Bomben hatten in den Wohngebieten viele Häuser zerstört. Alle mussten zusammenrücken. Deshalb wohnte die vierköpfige Familie in zwei kleinen Zimmern – die Toilette befand sich auf dem Gang und musste zudem noch mit den Nachbarn auf der Etage geteilt werden. Badezimmer gab es nicht – das Waschbecken in der Wohnküche musste genügen – UND es genügte – weil es genügen musste!
Deutschland hatte den Krieg begonnen und verloren und musste zusätzlich zehn Millionen Flüchtlinge aus den russisch besetzten deutschen Ostgebieten aufnehmen – es war eng und man musste sich arrangieren.
Aber niemand war unzufrieden – man hatte überlebt – fing neu und bescheiden wieder an.
Der Vater nahm die Arbeit an, die angeboten wurde – er wurde Nachtwächter – arbeitete nachts und schlief am Tag.
Hans Joachim besuchte die Realschule und hatte im ersten Jahr ausschliesslich nachmittags Schule. Es gab nur wenig Schulen, die nicht von Bomben zerstört waren – so mussten die verbliebenen Gebäude doppelt belegt werden. Das hatte zur Folge, dass er den Vater nur wenig sah. Wenn dieser nach der nächtlichen Arbeit nach Hause kam, ging er schlafen, und Hans Joachim war morgens allein in der Wohnung und ging mittags zur Schule. Wenn er zurückkam, ging der Vater kurz darauf bereits zu seiner nächtlichen Arbeit.
Die Mutter ging bei der Militärbesatzung putzen.
So ging ein Jahr dahin, und gemeinsame Zeit war da knapp.
So war es ein Jahr, das im Vater-Sohn-Verhältnis fast verloren ging.
10 Jahre später in der Aufbahrungshalle
Diesen «Diamanten» legte er seinem toten Vater nun in die Hand – er möge ihm den Weg ins Licht, in die Befreiung zeigen. Am Ende eines Lebens, das für ihn aus so vielen Jahren Krieg, Angst und Leiden bestanden hatte und nun war endlich Reihe.
Tragende Energien sollten ihn in eine Welt führen – ohne Krieg, ohne Leid – ins Licht und in die Glückseligkeit.