«Erinnern und Vergessen» auf dem Geschichtenpfad
14.10.2025Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt ...
Am 21. September wurden auf dem Geschichtenpfad zum elften Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von zwei Autorinnen und zwei Autoren. Wer jetzt richtig gezählt hat und stutzig wird – bei der letzten Geschichte überraschte die Urheberschaft. Bereits erschienen ist: «Gegen das Vergessen» von Margrit Wipf (09.10.2025), «Dumpfe Schläge» von Felix Schröter (11.10.2025).
Lieber spät als gar nicht
VON SUSIE SCHERRER
Vergessen und Erinnern. Mit beidem kennt man sich in meinem Alter sehr gut aus. Wie oft weiss ich im Keller nicht mehr, wonach ich eigentlich suchen wollte. Wie oft muss ich auf dem Weg zum Bahnhof umkehren, weil ich vermute, die Haustüre nicht abgeschlossen zu haben. Im Gegensatz dazu: Warum erinnere ich mich an die weissen Sonntagsschuhe, auf die ich so stolz war im Kindergarten? Warum ist es mir heute noch peinlich, wenn ich daran denke, dass ich mich vor 70 Jahren im falschen Schulzimmer gemeldet hatte?
«Wie diese seltsame Gedächtnisstadt funktioniert, bleibt trotz aller Bemühungen der Wissenschaft ein Geheimnis, so tiefgründig wie die dunklen Tiefen der Ozeane. Ganze Bibliotheken kann man füllen mit den Spekulationen und Forschungsergebnissen über Erinnern, Vergessen, Verdrängen, Kurz- und Langzeitgedächtnis, aber eine letzte Klarheit über seine Arbeitsweise hat man bisher nicht bekommen.» Das schreibt der Autor Rafik Schami in seinem Bestseller «Sophia». Die Frage stellt sich, wo Vergessen aufhört und Verdrängen anfängt? In der Geschichte aus meiner Schulzeit geht es wohl eher um Verdrängen und Erinnern. Es ist die Geschichte von Bruno.
Er kam auch an diesem Tag zu spät. Wie üblich schlich er mit gesenktem Kopf ins Klassenzimmer und war sich des täglichen Donnerwetters samt Schlägen mit dem Lineal sicher. Doch heute war nichts wie üblich. Vor der Klasse stand ein fremder Mann. Der war gerade in Begriff, sich der Klasse vorzustellen: «Ich heisse Guido Meierhans und vertrete euren Lehrer …» In diesem wichtigen Moment störte Bruno mit seinem späten Erscheinen die Ankündigung. Wir Schülerinnen und Schüler getrauten uns kaum zu atmen. Denn an dieser Stelle wurden wir sonst Zeugen eines täglichen Dramas. Aber heute: «Ja guten Morgen junger Mann. Wie heisst du? Ich war gerade dabei mich vorzustellen. Also ich heisse Guido Meierhans.» Er streckte Bruno die Hand hin «und wie heisst denn du?» Bruno stotterte verunsichert seinen Namen. «Schön, dass du noch gekommen bist, morgen vielleicht etwas pünktlicher? Also, ich vertrete euren Lehrer so lange bis er wieder gesund ist. Er liegt nach einem Ski-Unfall im Spital.» Am liebsten hätten wir geklatscht und Halleluja gerufen, aber niemand getraute sich die Schadenfreude zu zeigen. Unter anderem, weil Leo, der älteste Sohn und Lieblingsschüler seines Vaters, in unserer Klasse war. Der hätte zu Hause brühwarm erzählt, wer sich gefreut habe und das wäre sicher in irgendeiner Art geahndet worden. Wir waren nun in der sechsten Klasse und hatten das strenge Regime des weitherum berüchtigten Volksbildhauers Hannes Minder während zweier Jahre erduldet. Wir hassten ihn. Wir fürchteten ihn, was er zu geniessen schien. Er war ein Sadist. Jeden Schulmorgen erwartete uns derselbe Horror. Bruno kam zu spät, Minder zückte seine Armbanduhr und strafte den Schüler pro verspäteter Minute mit einen Hieb per kantigem Lineal auf die linke Handfläche. Manchmal waren es deren zehn … Wir litten mit Bruno, manche Mädchen weinten. Bruno biss auf die Zähne und gab keinen Schmerzenslaut von sich. Minder steigerte sich in eine unsägliche Wut, bekam einen roten Kopf, schwitzte. Dass er nicht geiferte, wunderte uns. Einmal verlangte er von Bruno, dass er die rechte Hand hinstrecken solle.
Das gehe nicht, meinte Bruno, weil er ja noch schreiben müsse. Dann solle er halt die Linke nehmen zum Schreiben. Nach der verstörenden Prozedur begann der Unterricht, diesmal nicht mit Rechnen, sondern Minder ordnete eine Schönschreibprüfung an. Wohl wissend, dass Bruno schlecht abschneiden würde, was ihn, den Lehrer, erneut zu einer weiteren Sanktion anstachelte.
Einmal flehte ich Bruno in der Pause an, doch pünktlich in die Schule zu kommen. Es könne doch nicht so schwierig sein, die paar Minuten früher aufzustehen. «Geht nicht», brummte er. Und so ging die Tortur fast jeden Morgen von Neuem los.
Aber jetzt stand also dieser neue, junge Lehrer vor uns. Wen wundert es, dass wir ihm vorerst nicht über den Weg trauten. Vor allem, als er ankündigte, wir würden dann unserem «richtigen» Lehrer einen Brief ins Spital schreiben.
Der neue Lehrer schien wirklich an uns interessiert zu sein. Er fragte nach unseren Hobbys, nach unseren Lieblingsbüchern, nach unseren Lieblingssongs. Und als Fussball sich als das meistgenannte Lieblingshobby der Buben herausstellte, fragte Meierhans doch tatsächlich, ob er in der Pause mittschutten dürfe. Wir konnten es kaum glauben. War das jetzt ein Anbiederungsversuch? Aber nein, ab da kickte der Lehrer in der grossen Pause lieber mit den Jungs, als dass er sich ins Lehrerzimmer begeben hätte. Immer mehr Mädchen unserer Klasse wagten es, mitzuspielen. Jetzt beneideten uns die anderen Klassen, während wir noch vor Kurzem gerne mit ihnen getauscht hätten. Das dauerte aber nur ein paar Tage. Leider sei er angewiesen worden, die Pausen mit seinen Lehrer-Kolleginnen und Kollegen zu verbringen, entschuldigte sich Meierhans.
Zweimal pro Woche mussten, oder durften die Mädchen in die Nähschule. Manchmal stattete der neue Lehrer «seinen» Mädchen dort einen Besuch ab. Das hatte es doch noch nie gegeben! Und dann erzählte er auch noch, dass seine Freundin Handarbeitslehrerin sei. Aha, er hat eine Freundin? Wie die wohl aussieht? Unterdessen waren wir so mutig, dass wir ihn darüber ausfragten. Das schien ihn zu freuen und er meinte, sie, seine Freundin sei genauso gespannt auf uns, wie wir es auf sie seien. Da sei es doch am besten, wenn sie einmal vorbeikommen würde. Sie kam nicht nur vorbei, sie brachte auch einen Kuchen und sie war sehr hübsch. Sie wickelte uns sozusagen sofort um den kleinen Finger.
Kurz: Wir gingen wieder gerne zur Schule. Nur dass Bruno weiterhin jeden Morgen zu spät kam, machte uns Bauchweh. Wir fürchteten den Moment wo Meierhans die Geduld ausgehen würde. Regelmässig fragte er Bruno nach dem Grund der Verspätung. «Die Barriere war geschlossen», war die erste Ausrede von Bruno. Uns stockte der Atem, alle wussten wir doch wo Bruno wohnte und dass es da weit und breit keine Barrieren gab, vor allem nicht auf seinem Schulweg. Diese vermeintlich geschlossene Barriere musste nun täglich für Brunos Ausreden hinhalten. Mal war der Zug ausgerechnet hinter der Schranke stehen geblieben, mal waren Ziegen ausgebüxt und auf die Gleise geraten, mal waren Gleisarbeiten in Gange … Wir, Brunos Mitschülerinnen und Mitschüler, wanden uns in den Bänken. Denn irgendeinmal musste der auswärts wohnende Lehrer ja merken, dass von einer Bahnlinie auf Brunos Heimweg keine Rede sein konnte. Und dann, was würde dann passieren? Wir sassen jeden Morgen wie auf Nadeln. Wir konnten das angenehme Schulklima nicht richtig geniessen. Aber nichts passierte. Selbst dann nicht, als Meierhans bei allen Schülerinnen und Schülern Hausbesuche ankündigte und so, doch Gelegenheit bekam die Gegend und Geografie seines Wirkens kennen zu lernen. Das Gegenteil war der Fall: Meierhans schien sich über die Ausredenvielfalt seines Schülers zu amüsieren. Und wir warteten immer auf seine Explosion.
Dann, eines morgens kam Bruno nicht nur zu spät, nein, er kam überhaupt nicht mehr zur Schule. Seine Mutter sei gestorben, orientierte uns der Lehrer. Wir dachten, dass Bruno nach ein paar Tagen wieder auftauchen würde, vermutlich wie immer ein paar Minuten zu spät.
Aber er kam nicht mehr. Die Familie sei zurück nach Italien gezogen, vernahmen wir.
Jetzt begann für uns ein entspannter Rest der Primarschulzeit, obwohl der Übertritt in die Oberstufe bevorstand und damit viele verhasste Prüfungen einhergingen. Aber um Bruno mussten wir uns keine Sorgen mehr machen. Wir schielten nicht mehr jeden Morgen zur Klassentüre. Und als uns Meierhans erklärte, dass er uns bis zum Schluss des Schuljahres erhalten bleibe, da war unsere laute Freude direkt unanständig.
Nach den Ferien verloren wir den Kontakt untereinander. Andere Schulstufen, andere Schulhäuser, andere Kameradinnen und Kameraden. Manchmal traf man zufällig eine ehemalige Schulfreundin, dann kam unweigerlich die Frage: «Hast du wieder einmal etwas von Bruno gehört?» Nein, das hatte niemand. Und auch als die ersten Klassentreffen anstanden, war Bruno nicht auffindbar. Aber er war an diesen Zusammenkünften immer ein Thema und wir hätten halt schon sehr gerne gewusst, was aus ihm geworden war.
Und dann, in dem Jahr, als wir 60 wurden, meldete die Organisatorin des nächsten Klassentreffens, dass sie Bruno ausfindig gemacht und er sich tatsächlich für die Zusammenkunft angemeldet habe. Hei, wie waren wir gespannt!
An besagtem Abend warteten wir, wie vereinbart, in unserem ehemaligen Klassenzimmer. Ein Foto von damals half uns unsere einstigen Plätze zu finden. Brunos Stuhl blieb leer, was uns natürlich zu faulen Sprüchen verleitete. Wir vermuteten, dass er absichtlich zu spät kommen würde, was ja schliesslich sein Markenzeichen war. Aber er erschien nicht zu spät, er kam gar nicht. Wir waren sehr enttäuscht, um nicht zu sagen hässig.
Nach dem Apéro im Schulhaus gings gemütlich durchs Dorf zum Nachtessen ins «Rössli». Und wer sass da vor einem Glas Roten in der Gartenbeiz? War das nicht Bruno? Trotz Bart und langen Haaren erkannten wir ihn wieder. Er habe, verkündete er, im Schulzimmer auf uns gewartet, aber wir seien nicht gekommen. Der Abwart habe nichts von einer Klassenzusammenkunft gewusst, habe ihm aber trotzdem das ehemalige Schulzimmer gezeigt. Allgemeines Stirnrunzeln. Fragen von allen Seiten. Wo bitte hatte er auf uns gewartet? Im ehemaligen Schulzimmer? Wir waren doch dort gewesen, in Zimmer Nummer 6 im Schulhaus Blumenau! «Schulhaus Blumenau?» fragte Bruno ungläubig. «Ich bin nie ins Schulhaus Blumenau zur Schule gegangen», behauptete er. Wo hatte er dann auf uns gewartet? «Dort wo wir die Schulbänke gedrückt haben, im Schulhaus Wiesengrund!» Jetzt zweifelten wir an seinem Verstand. Es stellte sich heraus, dass er sich tatsächlich nicht daran erinnerte. So etwas! Wir konnten es nicht glauben. In diesem «Blumenau» hatte er während Monaten unter einem brutalen Lehrer gelitten, wir hatten mitgelitten und wir hatten es fast nicht ausgehalten, seine Torturen mitanzusehen. Und jetzt erinnerte er sich nicht einmal mehr an den Ort des Grauens! Hatte er eventuell auch die Schläge mit dem Lineal vergessen?
Wir wurden im Sääli zum Essen erwartet und verschoben weitere Fragen auf später. Erst als ein Mitschüler berichtete, dass Lehrer Minder kürzlich zu Hause verstorben sei und er die Todesanzeige zitierte «… sei friedlich im Kreise seiner Familie eingeschlafen …» kam die heftige Reaktion von Bruno. «Waas, rief er entrüstet! Friedlich eingeschlafen ist der Schlägertyp! Elendiglich verr … hätte ich ihm gegönnt!» Da wussten wir, vergessen hatte er die Schläge nicht. Alle redeten durcheinander, schilderten, was diese schreckliche Schulzeit mit ihnen gemacht hatte. Bruno hörte zu und zeigte sich erstaunt, dass wir alle so mitgelitten hatten. Das habe er damals gar nicht so mitbekommen. Eine Frage beschäftigte uns: Wie kam es, dass der neue Lehrer Brunos «Zu-spät-kommen-Ausreden» akzeptierte, obwohl er doch herausgefunden haben musste, dass es auf Brunos Schulweg keine Bahnschranke gab.
Da löste Bruno das Rätsel, erzählte, dass Meierhans auf Elternbesuch kam und sah, dass Brunos Mutter krank war, sehr krank. Sie lag schon seit Monaten im Wachkoma. Brunos Aufgabe war es, sie vor der Schule mit dem Nötigsten zu versorgen und erst wenn sein Vater mit dem Velo von der Nachtschicht nach Hause kam, machte er sich auf den Schulweg. Beim Lehrerbesuch bat Brunos Vater, dass der Zustand seiner Frau, also Brunos Mutter, nicht herumerzählt werden sollte. Lehrer Meierhans und Schüler Bruno einigten sich auf die Weiterführung der Bahnschranken-Ausreden. Endlich hatte sich für uns das Rätsel gelöst.

