Hans im Glück 2.0

VON MARKUS ROHNER

Entstehung der Geschichte

Das Thema für den Geschichtenpfad wurde von uns Autoren Anfang Jahr bestimmt – aber das wissen Sie ja. Dieser Begriff, Geschichte – eh nein, Gefühl – begleitet mich als Autor seit jenem Zeitpunkt. Denn Geschichten entstehen wie Geschöpfe, natürlich und durchlebt mit allen Sinnen: NI (Natürliche Intelligenz): Ideen, Szenen, Impulse, Sketches, Fantasien, Bedenken, Aufnehmen, Verwerfen, Rücksichten, Frechheiten, Feinheiten, Widersprüchlichkeiten mit Begleit-Gefühlen aller Art. Oder Pop-ups, 100% natural appeared.

Aber auf der Basis von «intelligenten» Definitionen soll die Grundlage gefunden werden, auf der die Ideen zur Geschichte geflochten werden. So suche ich Definitionen, was Gefühle, etwas nicht wirklich Logisches, sein sollen. Die Internet- «Brause» (englisch: Browser, Standarddeutsch: Suchmaschine) eines grossen «Brausen»-Anbieters zeigt mir 160’000 Treffer. Da gibt’s offenbar sehr viele Möglichkeiten. Ganz sicher mehr, als in der Zeit seit der Festlegung des Themas Ideen in mir hätten aufpoppen können. Wären die 160’000 (Worte)Treffer der Internet- «Brause» Wassertropfen, nacheinander im Sekundenrhythmus tropfend aus einer abgedrehten, aber undichten Brause würde es 44 Stunden, 26 Minuten und 40 Sekunden dauern, bis diese «getropft» sind. Das gäbe die stattliche Menge von 31,11 Litern Wasser insgesamt. In 1-2 Sekunden daher geschossen, würde mich die Wassermenge, so ich nicht ausweiche, wohl aus dem Gleichgewicht werfen und gar verletzen. Der Tod wäre je nach Kaliber des Wasserstrahls auch möglich; mit einer Duschbrause wohl Tod durch Perforation.

Da mich die Anzahl der Definitionen überfordert, mache ich das Gleiche wie bei einem Spontaneinkauf in einem Einkaufszentrum mit 160’000 Artikeln. (Ob es ein so grosses Einkaufszentrum wirklich gibt, weiss das Internet mit wenigen «Brausen»-Einstellungen befragt, noch nicht genau). Genug jetzt der irritierenden Unzulänglichkeiten des Interne(t)s: Ich nehme die erstbeste Definition, die mir zweckmässig und ansprechend erscheint; es ist ungefähr die dritte. Konkret zu finden in der «Brause» einer ziemlich grossen «Brausen»-Dienstleistungsfirma: www.google.com/">https://www.google.com/ search?q=Gefühle …den Rest erspare ich Ihnen zum Hören und mir zum Lesen – bzw. Ihnen zum Lesen und mir zum Schreiben. Hervorgebracht durch die Wahl dieser Buchstaben-, Zahlenund Zeichenreihenfolge erscheint folgende Definition:

«Gefühle sind subjektive Erlebniszustände, die durch Ereignisse, Vorstellungen und Erinnerungen ausgelöst werden. Sie können angenehm oder unangenehm sein und sind nur teilweise bewusst erlebbar. Gefühle sind der Motor unserer Handlungen und werden durch Vernunft gelenkt. Gefühle sind zu unterscheiden von Emotionen, die körperliche Äusserungen sind, die der Gefühlsempfindung vorausgehen.»

Ob die Definition taugt?
Hm. Heisst also, der Schmerz entsteht als Emotion, wenn es sich ereignet, dass ich mir in den Finger schneide. Ein starkes Schreck-Gefühl kann reflexartig zu einem Schrei, Messerwegwerfen, Aufspringen oder in Ohnmacht fallen führen. Und irgendwann danach, nebst dem nützlichen Behandeln der Wunde, beobachte ich, wie sich mein subjektiver Erlebniszustand entwickelt hat und weiter entwickelt. Zum Beispiel Ärger, manifestiert mit Ausrufen eines Kraftausdrucks (etwa: Sch…on noch schade). Da ziemlich klar, gibt’s wohl kein künftiges unbewusstes Erleben mehr, es reicht, was schon in der Vergangenheit geprägt wurde – die Reflexe und Kraftausdrücke, die man wohl im Kindesalter «abgeschaut» hat. Es kann aber sein, dass wiederholtes in den Finger schneiden dem Unbewussten bestätigt, dass am Finger ein Nerv irritiert wird, und dies vielleicht ein ganz klein wenig zu noch mehr Vorsicht und/oder Schreckhaftigkeit führt.

Ja, so geht die Definition auf. Und nun? Gehen wir in die Praxis und testen aus, was geschieht, wenn Gefühl und Verstand das gemeinsame Mass nicht mehr finden. Denn es gibt tatsächlich Momente oder gar unbewusste Lang-Ereignisse, wo einem die Fülle an Gefühlen und die daraus entstehende Fülle an Gedanken, mit Einsichten, Motivationen, Widersprüchen das Ihre dazu tun, dass es auch mal zu zuviel Gefühlen kommt. Und die Vernunft übertölpelt wird. Oder aber das Gegenteil, dass der Verstand versucht, mit Willenskraft das Zepter zu übernehmen. Und die Gefühle, so stark kontrolliert, finden zu wenig Platz. Auf die Dauer kann solches auch mal schädlich werden, da ins Unbewusste abgelagert, die verdichteten ungelebten Gefühle als «Zeitbombe».

Das moderne Märchen

Das erfuhren und erfahren Kurt Reger und Heinz Walder, beide so um die sechzig. Weggefährten, die das Schicksal auf den Rücken geworfen hat. Sie habe sich im Spital kennengelernt. Kurt hat einen Herzinfarkt erlitten. Heinz eine offene Blinddarmentzündung mit weiteren Komplikationen.

Beide sind erschöpft von der Zäsur des gesundheitlichen Einbruchs. Und zu ihrem Glück auch dankbar, erleichtert, dass sie noch leben. Zwei Glück(e): Kurt im Glück. Und Heinz im Glück. So wie Hans im Glück. Wenn auch ganz spät erscheinendes Glück – die Rebellion der Gesundheit.

So verletzlich und offen wie sie nun sind, sind ihre Herzen wieder offen, ebenso deren Bauchgefühl wieder wach und präsent. Beide hatten, was Herz und Bauch zu melden gehabt hätten, bisher unbeachtet weggedrückt, gar mit reichlich Essen und Trinken noch durcheinandergebracht.

In der Vergangenheit von Kurt lag hohes berufliches Engagement. Er hat sich als Leiter der Dienste eines mittelgrossen Bauunternehmens für Rechnungslegung, IT-Infrastruktur, rechtliche Fragen und das Personalwesen eingesetzt. In Letzterem war er anerkannt und geschätzt dafür, dass er sich bei persönlichen und gesundheitlichen Problemen von Mitarbeitern menschlich wie sachlich – halt auch als Mitmensch – tadellos für sie eingesetzt hatte. Der Spruch von Angela Merkel, «Wir schaffen das», steht prominent auf seinem Pult, was seine Gutmütigkeit und seine hohe Dienstbereitschaft treffend ausdrückt. Statt immer mehr Flüchtlinge wie bei Merkel in Deutschland, war es das Geschäftsvolumen der Baufirma und die zumeist bürokratischen Anforderungen, die er tatsächlich nicht mehr erfüllen konnte. Vor fünf Jahren hatte seine Partnerin genug davon, dass er das Büro der Partnerschaft, der Familie und ihrem Zuhause immer mehr vorgezogen hatte, und dabei seine Kräfte dort verbrauchte und so bei Anwesenheit zuhause nicht mehr spürbar «da» war. Die Beziehung ging in Brüche. Es blieb ausser der Arbeit noch das Mittun im Schachklub und die Anlässe der Mäzen-Vereinigung des NLA-Handballclubs und dessen Spiele in der Stadt. Ansonsten von früh bis spät die Arbeit, vielleicht noch gefolgt von einem «Schlumbi» in seinem Stammlokal. Am Wochenende etwas Lesen, Wandern. Das war’s dann, was Kurt «privat» noch erlebt hat.

Heinz hat sein Treuhandbüro mit 20 Mitarbeitern, das Betriebe aus Industrie und Gewerbe zu seiner Kundschaft zählt. Daneben setzt er sich für eine ganze Anzahl von kleineren Non-Profit-Organisationen ein, bei einigen zudem als Mandatsträger im Leitungsgremium. Rechtliche Scherereien in einer dieser Organisationen und Uneinigkeit im Stiftungsrat brachten ihn endlich an seine Grenzen, vielmehr darüber hinaus. Seine Partnerin, eine Politikerin aus Stuttgart, hat den zweiwöchentlichen Rhythmus der Treffen, mal in Stuttgart, mal in der Schweiz, aufgegeben und riskiert auf Dauer wohl ihre Politkarriere, da sie nun öfter bei «ihrem» Heinz weilt, der nun im Spital liegt und danach wohl auch der Reha bedarf.

Sie verstehen sich gut, Kurt und Heinz. Nach einigen Gesprächen über Allgemeinplätze wie Sport, Politik und wirtschaftliche Themen teilten sie ihre persönlichen Geschichten, die sie beide hierher, ins Spital, gebracht haben. Es tut gut, offen und ehrlich, ohne Vorwürfe, zurückzuschauen, über das Kommende zu sinnieren, zusammen mit einem Spitalbett-Kumpanen, der nachvollziehen kann, wie einem geschehen ist und was das nun heisst.

Sie stellen fest, dass sie diese Geschichten, die zum gesundheitlichen Crash geführt haben, mit anderen, neuen Augen ansehen – im Gegensatz zu vorher; auch im Gegensatz zu denen, die solches nicht erlebt haben. Oder noch nicht wissen, welches Schicksal ihnen tickt. Nun ist das unermessliche Pflichtbewusstsein, wiewohl angetrieben durch Leidenschaft und Interesse, etwas zu leisten und für – andere – Menschen – nicht mehr da. Denn das wieder zugängliche Herz und das befreite Bauchgefühl haben die Liebe zum Leben und die natürliche Balance wieder in ihr Leben zurückgebracht. Sie fordern aktuell radikal Ruhe und nur für sich da zu sein.

In der neuen «Freiheit» findet Kurt nachdenklich, es sei jetzt endlich mal Zeit, verantwortungsvoll sich für den Mitarbeiter Reger Kurt einzusetzen. Heinz Walder geht es ähnlich. Statt für die Non-Profit-Organisationen will er sich für die Förderung seiner vernachlässigten eigenen Bedürfnisse einsetzen. Er braucht dafür keine Non-Profit-Organisation, denn er hat nun selbst direkt den – nicht in Geld ausgedrückten – Profit.

So hat das Schicksal ihnen zu neuen Erfahrungen, Gefühlen und Horizonten verholfen. Einsicht. Staunen über das Geschehene. Dankbarkeit für das Überleben. Schon etwas Angst, was kommen mag. Doch es überwiegt vor allem die Erleichterung aus der gesundheitlichen Zäsur, die ratzekahl überkommene, gewohnte Gedanken, Handlungen, Haltungen, Traditionen, Selbstverständnisse für beide aus dem Weg gefegt hat.
Platz hat es nun für neues Leben. Wenn sie das Spital beziehungsweise danach die Reha verlassen, werden sie das Nötige in Angriff nehmen. Das gewohnte Engagement wird zurücktreten müssen. Um das auf die Reihe zu bringen, könnten sie ja das vorhandene Wissen und die grosse Erfahrung nutzen – für sich. Sollte das Wissen im neuen Leben nicht mehr so ganz wollen, kann es auch mit Hilfe eines Märchenbuchs ergänzt und belebt werden, oder eines Coaches, wie es sie in modernen Zeiten in mannigfaltiger Art gibt.

Ironisch schmunzelnd fällt den beiden beim Übertritt in die Reha ein, dass sie nun so frei sind wie zwei Hänse im Glück, welche die erdrückende Last auf Herz und Bauchgefühl anstelle von schweren Mühlsteinen und Goldklumpen in den Brunnen geschmissen haben. Entstanden durch die vielen gleichzeitig erledigten Pflichten, die sie nun in einem Mal losgeworden sind. Im Gegensatz zum Grimmschen Märchen, in welchem der gute Hans bei den Pflichten über lange Jahre Erfahrungen gesammelt hat. Und darum auch am Schluss überlegt und bewusst die Last, den Mühlstein in den Brunnen warf und gesund nach Hause gegangen ist. Darum nennen sie, Kurt und Heinz, ihre erlebte Version Hans im Glück 2.0 – 2.0 für die ultimative, neue Version. Erlebt wohl von vielen Menschen (Hänsen und Hansinen), in deren Leben es heutzutage für ähnliches durch natürliche Intelligenz «Saison» ist oder wird.

Nachwort

Ich hoffe, das nun von Ihnen miterlebte Ereignis «4. Lesung am Geschichtenpfad Elgg 2024», hat, vermengt mit Ihren persönlichen Vorstellungen und Erinnerungen, Ihnen definitionsgemäss subjektive Erlebnisse beschert. Gefühle halt. War Ihnen das Ganze zuviel – empfehle ich, das Zuviel mit einem Gefühlsausbruch zu entsorgen durch kräftiges Ausdrucken, eh, -rufen: Geh! – Fülle.

«Gefühle» auf dem Geschichtenpfad

Ende September wurden auf dem Geschichtenpfad zum zehnten Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von vier Autoren und einer Autorin. Bereits erschienen sind: «Der Buchstabendieb» von Jonas Najdzion (8.10.2024), «Freude» von Susie Scherrer (15.10.2024) und «Der falsche Joachim» von Rudi Elsenbruch (24.10.2024).

VOM ELGGER GESCHICHTENPFAD ZUM THEMA «GEFÜHLE»

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title