«Gefühle» auf dem Geschichtenpfad

Ende September wurden auf dem Geschichtenpfad zum zehnten Mal Kurzgeschichten an verschiedenen Lokalitäten in Elgg vorgetragen. Wie in den vergangenen Jahren veröffentlicht die «Elgger/Aadorfer Zeitung» die fünf Geschichten von vier Autoren und einer Autorin. Bereits erschienen ist: «Der Buchstabendieb» von Jonas Najdzion (08.10.2024).

Freude
VON SUSIE SCHERRER

Darauf hatte sie sich gefreut: barfuss auf hellem, feinkörnigem Sand entlang der Küste zu schlendern, mit der Sonne im Gesicht und dem Seewind um die Ohren. Alles stimmte, nur war der Wind etwas ruppig und kalt, sodass sie den Kragen der Windjacke bis zu den Ohren hochzog und überlegte, ob sie nun wirklich die Schuhe ausziehen sollte. Sie liess es vorerst bleiben.

Einige Unentwegte versuchten, Windverbauungen aus bunten Badetüchern und Luftmatratzen zu kreieren, gaben das Unterfangen entmutigt auf, weil die Windböen ihnen ständig ins Werk pfuschten. Lustige Wölkchen zauberten Muster auf den Sand. Ein feiner Duft nach Frittiertem deutete die baldige Mittagszeit an. Auf der Terrasse des Strandrestaurants waren keine Gäste auszumachen. Sie genossen «Fish and Chips» lieber im Wintergarten, dort wurden sie weder vom Wind noch von aggressiven Möwen gestört.

Sie ging also «so für sich hin, um nichts zu suchen, das war ihr Sinn», blieb ab und zu stehen und genoss den Anblick des grün-blau-grauen Farbenspiels des Wassers, in den Ohren die Sinfonie von Wind und Wellen. Sie war glücklich, Stunden früher als geplant angekommen zu sein. Frühmorgens hatten sie Kolleginnen und Kollegen an einer Busstation im Nirgendwo verabschiedet. Sie waren weitergereist zum Flughafen, um den Heimflug anzutreten. Sie hingegen hatte sich entschieden, noch ein paar Tage auf der Insel zu bleiben. Der Reiseleiter und eine Angestellte des Hotels hatten sich fürsorglich um die Organisation ihrer Weiterreise auf die andere Seite der Insel bemüht. Bestimmt hatten sie ihre Unsicherheit gespürt.

Früher war sie es gewohnt gewesen, unbekümmert und mit leichtem Gepäck unterwegs zu sein. Nun vergällte ihr eine Erkrankung zunehmend das unbeschwerte Reisen. Hartnäckig plagten sie Schmerzen, erinnerten sie ständig an diese Krankheit, vereinnahmten ihr Denken, Fühlen und Erleben dermassen, dass wenig anderes Platz fand. Der Alltag war von Zukunftsängsten geprägt. Bis zum letzten Moment hatte sie gezweifelt, ob sie überhaupt verreisen könnte und ob der zweite Teil der Reise, den sie allein verbringen wollte, möglich sei. Es fiel ihr nicht leicht, ihre Ängstlichkeit zuzugeben. Jahre, Jahrzehnte hatte sie eigenständig gelebt und die Familie durch strenge Berufsarbeit ernähren können. Stolz war sie auf ihre Unabhängigkeit gewesen. Und jetzt musste sie lernen, mit der neuen Situation klarzukommen. Es gab also viel zu bedenken, neu zu ordnen und eventuell ihr Leben zu ändern. Sie hoffte, dass diese Tage am Meer ihr Gelegenheit geben würden, in Ruhe ihre Lage zu analysieren und die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Sie folgte einem Paar Fussspuren. Jemand war vor kurzem hier gewesen, hatte dieselbe Schuhgrösse wie sie. Manche Abdrücke waren von den ankommenden Wellen verwischt, um einige Schritte weiter wieder aufzutauchen. Sicher war es auch eine Frau gewesen, allein wie sie selbst. Man kann sich aus Spuren ganze Geschichten ausdenken, ging es ihr durch den Kopf. Aber ob jemand glücklich ist oder Schmerzen hat, das lässt sich daraus nicht ablesen, sinnierte sie weiter.

Ob es in der Nähe ein windgeschütztes Plätzchen geben würde, fragte sie sich. Sie hatte ein Taschenbuch und die Lesebrille eingesteckt. Das auf Anraten der Hotelmanagerin, die sie am Morgen so herzlich begrüsst hatte. Das Zimmer sei noch nicht bereit, sie solle doch noch etwas spazieren gehen. Sie empfahl das nahe Strandcafé. Dort, meinte sie, könnte man gemütlich bei Tee und Scones sitzen und lesen. Ihr stand der Sinn eher danach, draussen zu verweilen.

Der Strand wurde durch einen mit dornigen Sträuchern bewachsenen Hügelzug begrenzt, und sie nahm an, dass man in seinem Windschatten irgendwo verweilen konnte. Vielleicht dort, wo zwei Gestelle mit akkurat aufgestapelten Surfbrettern auf angenehmere Wassersport-Bedingungen warteten. Schon wollte sie sich dorthin begeben, da sah sie, dass bereits vor ihr jemand dieselbe Idee gehabt hatte. Die Fussspuren, denen sie gefolgt war, führten genau zur von ihr anvisierten Stelle. Und dort stand … eine Frau, oder … stand dort sie selbst? Sie zögerte weiterzugehen, denn diese Frau verunsicherte sie. «So, wie diese Frau aussieht, so sehe ich mich», dachte sie und «das gibt es doch nicht, dass man sich selbst sieht, höchstens im Spiegel oder in einer Pfütze oder im Traum.» War sie jetzt übergeschnappt, hatte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank? Zur Sicherheit kniff sie sich in den Oberschenkel. Es fühlte sich normal an. Die Frau bewegte sich kaum, blickte ständig Richtung Meer. Gleiche Statur, helle Hose, dunkle Windjacke, graue Haare, Sonnenbrille.

Vielleicht hatte sie ein verdrehtes Bild von sich selbst. Ihre Person auf Fotos fand sie auch immer fremd. «Aussenstehende Leute haben sicher ein anderes Bild von mir, als ich es von mir selber habe», dachte sie. Und bei diesen Gedanken klingelte ein Alarmsignal in ihrem Kopf. «In seltenen Fällen kann das Medikament Wahrnehmungsstörungen verursachen», hatte sie auf einem Beipackzettel der hellblauen Pillen gelesen, die sie jeden Morgen widerwillig schluckte. War es jetzt so weit? War das jetzt einer dieser seltenen Fälle? Und ausgerechnet bei ihr!

Ihr Ebenbild stand immer noch bewegungslos am selben Fleck. Vielleicht ist sie ja eine Statue, ein Denkmal? Aber eigenartig war die Situation auf jeden Fall. Sollte sie sich der Frau nähern, um Einzelheiten besser zu erkennen? Sollte sie die Frau anstupsen oder sie in ein Gespräch verwickeln? Sie wurde zunehmend aufgewühlt, verunsichert. Da hob die Frau eine Hand an die Stirn, wohl weil sie geblendet wurde. Also, ein Denkmal war sie schon mal nicht. Aber warum schaute sie so angespannt immer in dieselbe Richtung? Sie versuchte herauszufinden, was die Aufmerksamkeit der Fremden so intensiv beanspruchte. War sie einfach vom Kommen und Gehen der Wellen fasziniert? Das konnte sie gut verstehen, es ging ihr ja ebenso. Trotzdem glaubte sie, dass die Frau etwas beobachtete, was sie selbst nicht sehen konnte. Diese stand etwas erhöht auf einer Düne und hatte so den besseren Überblick. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, schlenderte sie möglichst unaufgeregt dorthin, wo sie annahm, dass etwas die Blicke der Unbekannten anzog.

Nach ein paar Schritten im Sand sah sie es: Ein kleines Kind, das am Strand hin und her rannte, mal auf die Wellen zu, dann wieder von ihnen weg. Wie die kleinen Vögel, die auf der Suche nach Nahrung auf ihren dünnen Beinchen den Wellen hinterherhüpfen. Als sie näher kam, bemerkte sie, dass es sich um ein kleines Mädchen handelte, zirka drei-, vierjährig. Ihre pinkfarbenen Leggings waren bis zu den molligen Oberschenkeln nass. Vergnügt tanzte sie barfuss vor und zurück. Ausgelassen jubelte sie und führte richtige Freudentänze auf. Manchmal streckte sie der Sonne die Ärmchen entgegen und drehte sich wie ein Karussell im Kreis. Ihr übermütiges Lachen wirkte ansteckend. Mit ihren kleinen Händchen schöpfte sie Wasser und liess es über ihren Kopf rieseln. Bei diesem herzerfrischenden Anblick konnte sie die Bedenken bezüglich ihrer Zurechnungsfähigkeit vergessen, und die Schmerzen machten barmherzig eine Pause. Die Lebensfreude der Kleinen war ansteckend.

Sie näherte sich der Uferlinie, hielt aber Abstand zum Wasser. Da fiel ihr ein junger Mann auf, der die kleine Tänzerin ebenfalls beobachtete. Er wirkte extrem angespannt, als wollte er jeden Augenblick losspurten. Das muss der Vater sein, dämmerte es ihr. Er wollte sein übermütiges Töchterchen wohl gewähren lassen, trotz der nicht ungefährlichen Situation. Die Wellen eroberten nämlich immer weitere Teile des Strandes. Es war Flut. Der Vater, ahnte sie, war bereit, einzuschreiten, falls erforderlich.

Sie blieb stehen, amüsierte sich über die ausgelassenen Freudentänze des Kindes. Als hätte es die Blicke gespürt, stoppte die Kleine plötzlich ihren Tanz, schaute angespannt in die Richtung der für sie fremden Zuschauerin und hüpfte nach kurzem Zögern auf sie zu. Sie zog die Frau am Jackenärmel, brabbelte dazu vergnügt Unverständliches. Dann bückte sie sich und machte sich an den Schuhen der Frau zu schaffen, nestelte mit ihren kleinen Fingerchen an den Schnürsenkeln. Sie verstand: Das Mädchen wollte, dass sie die Schuhe ausziehen würde. Was sie auch befolgte. Die Kleine nahm die Hand der Frau und zog sie erstaunlich kräftig zum Wasser. Woher nahm das kleine Persönchen so viel Kraft und Ausdauer?

Bisher hatte sie nichts von dem verstanden, was das Mädchen gebrabbelt, gesungen, gejauchzt hatte. Darum stellte sie sich mit ihrem Vornamen vor und fragte nach dem Namen der Kleinen. Diese hielt abrupt inne, verstummte, blieb nachdenklich stehen, liess die Hand der Frau los und rannte allein weiter. Etwas verdattert blieb sie stehen, ging zu ihren Schuhen zurück, die wohl schon bald von den züngelnden Wellen vereinnahmt worden wären.

Als sie die Socken in ihre Schuhe stopfte, diese an den Schnürsenkeln zusammenknüpfte, um sie bequem tragen zu können, bemerkte sie aus den Augenwinkeln jemanden in ihre Richtung laufen. Es war ihre Doppelgängerin. Jetzt sah sie, dass diese auch auf kurze Distanz wie ihre Zwillingsschwester aussah.

Ausser Atem lief sie an ihr vorbei. In der linken Hand hielt sie eine kleine Brille hoch, wohl eine Kinderbrille. Noch im Laufen rief sie: «Sorry, die Kleine ist fast blind. Sie hat uns beide wohl verwechselt, ich bin ihre Grossmutter.» Sie rannte weiter zum jungen Mann, wohl ihr Sohn, der während der ganzen Episode seinen Beobachtungsposten nicht verlassen hatte. Ob sie ihre Ähnlichkeit auch verwirrt hat? Sie würde es nie erfahren. Die zwei Erwachsenen, Mutter und Sohn, wie sie vermutete, nahmen die kleine Tänzerin bald in ihre Mitte und verliessen den Strand Richtung Parkplatz.

VOM ELGGER GESCHICHTENPFAD ZUM THEMA «GEFÜHLE»

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