Meisterliche Operninszenierung im Kleinformat
20.08.2024 ElggEin klassisches Werk der römischen Literatur, das viele griechische Mythen adaptiert, von Georg Friedrich Händel als Oper vertont. Die Handlung übertragen in die Me-Too-Debatte, aufgeführt in einem Kleintheater: Regisseur Simon Berger gelang, was auf den ersten Blick ...
Ein klassisches Werk der römischen Literatur, das viele griechische Mythen adaptiert, von Georg Friedrich Händel als Oper vertont. Die Handlung übertragen in die Me-Too-Debatte, aufgeführt in einem Kleintheater: Regisseur Simon Berger gelang, was auf den ersten Blick unlösbar scheint.
Die Erwartungen auf das Kommende waren gross am späten Freitagnachmittag, kurz vor der offenen Generalprobe im Theater zur Waage. Die Diskussion unter den Gästen drehte sich um den am selben Tag erschienenen Artikel im «Landboten» zum Machtmissbrauch im Kulturbetrieb, initiiert vom Team rund um Simon Berger. Ein schwieriges Thema, das er in seine Umsetzung von «Acis und Galatea» einfliessen lassen wollte.
In seiner halbstündigen Werkeinführung stellte Berger erst den Komponisten Händel vor, er erklärte die Handlung der Geschichte und zuletzt begründete er die Idee seiner Inszenierung: «Man hätte als Umgebung ebenso gut einen Märchenwald nehmen können mit üppigen Kostümen. Wir haben uns jedoch entschieden, den Stoff in einen aktuellen Kontext zu setzen – der Prozess des Vorsingens für die Hauptrollen bot uns die idealen Voraussetzungen.» Zu einem solchen Casting treffen hoffnungsvolle Talente aus aller Welt ein. Der Erhalt der Rolle kann den Start einer grossen Karriere bedeuten. Weit ab vom Gold und Samt der Opernbühne spielt sich – nicht selten in schäbigen Räumlichkeiten im Untergeschoss – das knallharte Leben ab. «Zwischen Juror und Vorsingendem herrscht ein immenses Machtgefälle. Die Grenze zu Machtmissbrauch und Ausnützung ist sehr schmal. Sexuelle Übergriffe sind trotz vieler umgesetzter Massnahmen nach wie vor eine Realität.»
Den Entscheid, das Stück mit seinem Team in diese Thematik zu setzen, bezeichnet Berger als Glücksfall, das ihn als Regisseur jedoch auch vor ungeahnte Herausforderungen gestellt habe: Denn «Acis und Galatea» hat mit seinem verschrobenen Bösewicht Polyphem durchaus auch eine komisch-groteske Note. Im Original ist der eifersüchtige, liebestrunkene Nebenbuhler ein Riese, der den Schäfer Acis mit einem Felsbrocken erschlägt. Trotzdem wurde er auch im Jahre 1718 nicht als das personifizierte Böse dargestellt – weder als Figur noch durch Händels Musik, die bisweilen fröhlich und witzig daherkommt.
Internationale Künstlerinnen und Künstler
Dieser ursprüngliche Riese Polyphem stand nun der Figur des übergriffigen Jurors gegenüber. Für Berger galt es, eine Balance zu finden, um dem Stück nicht jegliche Leichtigkeit zu nehmen. Er beschloss, zwar das Machtgefälle darzustellen, jedoch ohne konkrete Grenzüberschreitung. Ebenso sollte der Polyphem aus dem Vorsingraum den Kandidaten Acis nicht umbringen, sondern nur verletzen und am Ende seinen Fehler sogar einsehen, erschrocken über die eigene Tat.
Zum Abschluss der Werkeinführung erklärte der Regisseur das musikalische Konzept, das er aus der damaligen Zeit übernommen hatte: Auch damals war es üblich, dass die Solistinnen Teil des Chors waren – eine Tatsache, die den begrenzten Platzverhältnissen im Kellertheater sehr entgegenkam. Zum Ende der Einführung stellte er erst die Solisten vor: Als Galatea hatte er Yerin Mira Läuchli aus Zürich und Amsterdam verpflichtet, die Rolle des Damon, eigentlich ein Schäfer, übernahm in dieser Inszenierung die Zürcherin Désirée Mori und als Acis trat der in München wohnhafte Chinese Haozhou Hu auf; Israel Martins, in der Schweiz ansässiger brasilianischer Bariton, begeisterte als Polyphem. Das von Maxime Thély dirigierte Orchester bestand aus Rebecca Plane (Barockgeige), Asako Ito (Barockoboe), Serena Di Nuzzo (Cembalo) und Gian-Andri Cuonz (Barockcello).
Fliessend vom Casting zur eigentlichen Geschichte
Bevor die Aufführung begann, war noch einmal Gelegenheit, den Sommerabend zu geniessen und das Gehörte zu diskutieren. Man war sich einig, dass die Werkeinführung als Einstimmung wichtig war, um die Handlung vor dem gewählten Hintergrund zu verstehen.
Als Bühnenbild präsentierte sich den Gästen ein karg eingerichteter Aufenthaltsraum mit einem mehr als launischen Kaffeeautomaten. Was er ausspuckte, verdiente den Namen Kaffee nicht annähernd, dennoch war er der einzige Zeitvertreib für die auf ihr Vorsingen wartenden Kandidaten. Die Handlung war sanft übergehend: Hinter einem Raumtrenner sass missmutig der Juror, der die verschiedenen Künstlerinnen anhand ihrer Nummern zum Vorsingen für die Rollen von Galatea und Acis aufrief.
Aus diesem Vortrag entwickelte sich nach und nach die eigentliche Geschichte: Galatea und Acis verliebten sich in diesem beklemmenden Abstellraum während ihrer Wartezeit. Polyphem, der ebenfalls ein Auge auf die Schöne geworfen hatte, wurde eifersüchtig und verletzte Acis schliesslich mit dem Lautsprecher der Gegensprechanlage. Als Folge dessen beschloss Galatea, auf ihre Rolle zu verzichten. Sie wehrte sich zusammen mit den anderen Schauspielern gegen den Übergriffigen und verliess mit Gefährtin Damon und Acis den mittlerweile mit Papierschnipseln und leeren Kaffeebechern zugemüllten Raum. Zurück blieb ein einsamer Juror, der seine Tat zu bereuen schien.
Wurde in der Originalgeschichte aus dem erschlagenen Acis ursprünglich ein ewig fröhlich-sprudelnder Fluss, so wurde aus ihm in Bergers Inszenierung ein erstarkter junger Mann, der seine eigene Persönlichkeit und die seiner Freunde über die Karriere stellte.
Grosse Begeisterung und stehende Ovationen
Geschickt liess Berger immer wieder deutsch oder schweizerdeutsch gesprochene Kommentare und Texte zwischen den meist englisch gesungenen Liedern einfliessen. Immer wieder begleitete das Geräusch des Kaffeeautomaten Gesang oder Gespräche, was der Handlung keineswegs Abbruch tat – im Gegenteil. Die Geschichte war greifbar und durch die räumliche Nähe hatte das Publikum förmlich das Gefühl, mittendrin zu sein. Die Begeisterung nach den zwei Akten war riesig. Die Gäste erhoben sich von ihren Stühlen und zollten mit langem Applaus ihren Respekt für das Gebotene. Wunderbare Musik und die hervorragende Leistung der Solisten im Kleintheater stellten eine einmalige Kombination dar. Dementsprechend war dies nach der Vorstellung auch das meist gehörte Kompliment: «So nahe ist man Musikerinnen und Solisten dieses Niveaus sonst nie. Es war absolut einzigartig.»
Freude und Begeisterung waren nicht nur auf den Gesichtern der Zuschauer zu sehen. Auch Simon Berger strahlte und zeigte sich sehr erleichtert, dass an der Generalprobe alles gepasst hat. Damit dürfte einem Erfolg an der Premiere vom Samstag sowie den weiteren Vorstellungen in Winterthur (s. Box) nichts mehr im Wege gestanden haben oder stehen. Auch der Schreibenden bleibt nichts anderes, als ein Dankeschön und ein grosses Bravo für die gezeigte Umsetzung auszusprechen.
MARIANNE BURGENER
Weitere Aufführungen
Theater am Gleis, Winterthur:
Freitag, 23. August, 19.30 Uhr
Samstag, 24. August, 19.30 Uhr
Sonntag, 25. August, 17.00 Uhr
Reservationen unter: info@theaterzurwaage.ch